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1. Kapitel
Ein feuchter Nebel waberte aus den Wiesen hoch und verlieh der kargen Landschaft eine Atmosphäre grauer Unwirklichkeit. Kein Grün war zwischen den Schwaden zu sehen, nur die Silhouetten vereinzelter am Weg stehender Bäume waren schemenhaft zu erkennen. Leise war das Plätschern eines Flüsschens zu hören, dessen Lauf die einsame Landstraße schon seit geraumer Zeit folgte, und aus der Ferne klang das heisere Krächzen hungriger Saatkrähen.
Beinahe verloren wirkte in dieser Einsamkeit ein zierlicher Einspänner, der von einer jungen, schlanken Frau gelenkt wurde. Hin und wieder holperte der Wagen über kleine steinerne Brücken, die wie aus dem Nichts auftauchten. Die hölzernen Räder rumpelten bedenklich, denn die Fahrerin war viel zu schnell unterwegs. Sie verringerte ihr Tempo selbst dann nicht, als Spurrillen voller Regenwasser ihr Gefährt gefährlich schlingern ließen. Der Blick der Fahrerin war auf die unebene Straße gerichtet, und doch war sie ganz offensichtlich mit ihren Gedanken nicht bei der Sache.
Die feingeschwungenen Brauen der hübschen jungen Frau waren über ihren großen, dunklen Augen nachdenklich zusammengezogen. Sorgenfalten lagen auf ihrer glatten Stirn, die zu einem feingeschnittenen Gesicht gehörten. Rotbraune Locken, die unter den Spitzenrüschen eines hellgrünen Häubchens hervorschauten, fielen in weichen Wellen auf die Schultern eines dunkelgrünen Samtmantels, unter dem die Spitzen eines etwas helleren Seidenkleides hervorlugten. Sowohl die elegante Kleidung als auch die anmutige Haltung der jungen Reisenden zeugten von Stil und vornehmer Herkunft, und einzig der Umstand, dass die junge Dame allein und ohne Dienerschaft unterwegs war, hätte jedem, der ihr begegnet wäre, befremdlich vorkommen müssen.
Zum wiederholten Mal fragte sich Lady Victoria Ashton an diesem ungewöhnlich düsteren Septembernachmittag, ob sie nicht dabei war, eine riesengroße Dummheit zu begehen. Sie hatte sich noch nie unbegleitet so weit von zu Hause entfernt und war ziemlich sicher, dass ihr Bruder - ein überaus tapferer Lieutenant der Dragoon Guards und obendrein seit dem Tode ihres Vaters als Robert Ashton, Earl of Westshire das Familienoberhaupt - einen respektablen Wutanfall bekommen würde, wenn er wüsste, was sie tat. Dabei war der junge Earl selbst Abenteuern gegenüber nicht unbedingt abgeneigt – was ihn unter anderem dazu bewogen hatte, ein Offizierspatent zu erwerben und so der gutgemeinten Fürsorge durch seine Tante Lady Albinia zu entgehen. Genau wie seine Schwester Victoria liebte der Earl of Westshire seine Tante von Herzen. Lady Albinia, die Schwester von Roberts und Victorias Vater, hatte sich alle Mühe gegeben, ihrem Neffen und ihrer Nichte das Leben so angenehm wie möglich zu machen, als diese plötzlich zu Waisen geworden waren. Leider hatte sie dabei zu Roberts Verdruss jedoch völlig übersehen, dass Robert bereits volljährig und durchaus in der Lage war, mit der Trauer um seinen Vater fertig zu werden, ohne sich von morgens bis abends ein „Und wie geht es dir heute, mein lieber Junge?“ anhören zu müssen. Der Earl of Westshire war zu gut erzogen und zu freundlich, um Lady Albinia zu sagen, dass sie ihm auf die Nerven ging. So kam es ihm gerade recht, dass tapfere Offiziere gesucht wurden, um Napoleon von England fernzuhalten. Trotz Lady Albinias Jammern und Victorias Sorge, dass ihm etwas zustoßen könnte, war er in den Krieg gezogen, ohne irgendwelche Zweifel an der Richtigkeit seines Vorhabens. Zu aller Erleichterung war er nach der Schlacht von Waterloo größtenteils unversehrt zurückgekehrt.
Zweifel an der Richtigkeit ihres eigenen Unterfangens waren Victoria indessen schon auf den ersten Meilen ihrer Fahrt gekommen. Und nun, da sie bereits seit mehreren Stunden unterwegs war, war von ihrer Zuversicht, dass sie das Richtige tat, um ihrem Bruder zu helfen, nicht mehr viel übrig. Dennoch gab es nun kein Umkehren mehr. Inzwischen war sie so weit gefahren, dass sie vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr nach Hause zurückkäme. Die Vorstellung, des Nachts weiterzufahren oder womöglich im Freien übernachten zu müssen, war gar zu erschreckend. Es blieb ihr kaum etwas anderes übrig, als ihren einmal gefassten Plan durchzuziehen und die Nacht in einem Gasthof in Sturmarsh zu verbringen.
Sturmarsh – allein schon der Gedanke an diesen winzigen ehemaligen Fischerort an Kents wilder Küste in der Nähe von Dymchurch verursachte ihr ein Schaudern. Nicht etwa, weil sie den Ort kannte und ihn schrecklich fand, oder weil die Schauergeschichten über Schmuggler und Strauchdiebe, welche die Leute mit den Romney Marshes verbanden, sie schreckten. Nein, es war allein die Tatsache, dass sie in Sturmarsh den Mann zu finden hoffte, der ihr helfen sollte, ihren Bruder zu retten. Einen Mann, auf dem einerseits ihre ganze Hoffnung ruhte, und vor dem sie andererseits doch allergrößte Angst hatte.
Bei ihrem verwitweten Onkel Sir Frederic Colwood war es, dass sie das erste Mal von diesem Mann gehört hatte. Es war eher ein Zufall gewesen, dass sie einen Teil des Gesprächs zwischen ihrem Onkel und ihrem Bruder mitbekommen hatte, und ihr Onkel war sehr ungehalten gewesen, dass sie gelauscht hatte. Was sie natürlich nicht getan hatte! Aber Sir Frederic und Robert hatten bei geöffnetem Fenster so laut gestritten, dass sie bei ihrer Lektüre im darunter liegenden Garten gar nicht anders konnte, als einzelne Gesprächsfetzen aufzuschnappen. Sie hatte nur wenig begriffen, wohl aber, dass Robert unbedingt einen gewissen Black Tony in Sturmarsh aufsuchen wollte, sehr zum Unwillen ihres Onkels. Als sie Robert beim Mittagessen vorsichtig gefragt hatte, was er von diesem geheimnisvollen Tony wollte, hatte er mit einem finsteren Blick auf den ebenfalls anwesenden Sir Frederic und dessen Sohn Gideon gemurmelt, das werde er ihr später erklären, wenn sie alleine wären.
Nun, das hatte er nicht getan. Stattdessen hatte er sich gleich nach dem Essen sein Lieblingspferd Troubadour, das er eigens mit nach Fairinge gebracht hatte, satteln lassen und war kommentarlos fortgeritten, genau wie Sir Frederic und sein Sohn. Victorias Onkel kehrte kurz vor dem Abendessen gutgelaunt zurück, Robert und Gideon jedoch nicht. Doch während Gideon, wie Sir Frederic erklärte, sich spontan entschlossen hatte, ein paar Tage in London zu verbringen, gab es nicht den geringsten Hinweis darauf, wohin Robert verschwunden war. Als er auch am nächsten und übernächsten Tag nicht wieder auftauchte, begann Victoria sich ernsthafte Sorgen zu machen, denn es war eigentlich nicht die Art ihres Bruders, tagelang ohne irgendeine Begründung zu verschwinden. Sie schickte eine Nachricht nach London zu ihrer Tante Albinia, in der Hoffnung, dass Robert vielleicht aus Ärger über Sir Frederic vorzeitig dorthin zurückgekehrt sein könnte. Indessen hatte sie selbst keine allzu große Hoffnung, dass es so war, denn eigentlich war sie ziemlich sicher, dass Robert sie nicht einfach allein zurückgelassen hätte, schon gar nicht bei ihrem ungeliebten Onkel. Prompt kam dann auch die Antwort ihrer Tante, dass ihr lieber Robert ganz sicher nicht in London sei und sie sich nun nach Victorias Brief ebenfalls allergrößte Sorgen um ihn mache.
Victorias Ängste um ihren Bruder wurden mit jedem Tag, der verging, unerträglicher. Sie äußerte Sir Frederic gegenüber die Befürchtung, dass Robert vielleicht zu diesem Black Tony geritten sein könnte, von dem er gesprochen hatte. Sir Frederic aber hielt diese Idee für schlichtweg absurd. Er hätte seinem Neffen hinlänglich klargemacht, wie leichtsinnig es wäre, einen gefährlichen Verbrecher und Mörder wie Black Tony in einer so berüchtigten Gegend wie den Romney Marshes aufzusuchen, noch dazu wegen einer Nichtigkeit. Was das denn für eine Nichtigkeit wäre, hatte Victoria gefragt. Nun, eben eine Nichtigkeit und daher nicht wert, darüber zu reden, hatte ihr Onkel sie unwirsch abgefertigt. Er tat ihren Kummer mit der Bemerkung ab, Robert sei selbst schuld, wenn er in Schwierigkeiten stecke, da er ja nicht auf ihn habe hören wollen. Jedenfalls müsse der Bengel eben ausbaden, was er sich eingebrockt habe. Was er damit genau meinte, wollte er nicht erklären. Victoria musste schweren Herzens einsehen, dass es keinen Zweck hatte, Sir Frederic weiter herauszufordern, denn unglücklicherweise verband sich in Sir Frederics Temperament eine schnelle Reizbarkeit mit einer gewissen Starrsinnigkeit. Darüber hinaus erinnerte Victoria sich vage, dass Lady Albinia des Öfteren über Sir Frederics mangelndes Mitgefühl oder Interesse an seinen Mitmenschen geklagt hatte, und sie sah diese Meinung durch Sir Frederics Verhalten nach Roberts Verschwinden durchaus bestätigt. Es berührte ihn augenscheinlich weder, dass sein Neffe vermisst wurde, noch dass Victoria vor Sorge ganz außer sich war. Scheinbar ungerührt ging er seinen Verpflichtungen und Vergnügungen nach, als sei nichts geschehen, und überließ Victoria ihrem Kummer.
Zornig über seine mangelnde Unterstützung begann Victoria daher nach einiger Zeit, eigene Nachforschungen anzustellen. Tagelang ritt sie durch die Gegend, befragte Nachbarn und Dörfler, nur um jeden Abend verdrossen und niedergeschlagen heimzukehren, ohne irgendetwas in Erfahrung gebracht zu haben. Als Sir Frederic dahinterkam, verbot er ihr wutentbrannt, weiter auszureiten. Ihr Benehmen sei für eine junge Dame einfach empörend, schnaubte er, und der junge Tunichtgut werde schon wieder auftauchen, nachdem er sich seine Hörner abgestoßen habe.
Nun, das geschah nicht. Stattdessen erschien am nächsten Morgen, kurz nachdem Sir Frederic und sein inzwischen wieder heimgekehrter Sohn zu einem Ausritt aufgebrochen waren, ein Bauernjunge auf Fairinge, der von Victorias Suche nach ihrem Bruder gehört hatte. Es stellte sich heraus, dass er Robert am Tage seines Verschwindens unterwegs getroffen hatte. Lieutenant Lord Westshire sei sehr erregt gewesen, wusste der Junge zu berichten, und habe es eilig gehabt. Trotzdem habe er dem Jungen ein paar Münzen zugeworfen und, als dieser ihm zum Dank einen Apfel anbieten wollte, gerufen, zum Essen habe er keine Zeit, er sei auf dem Weg zur Küste, und der Weg sei sehr weit.
Diese Auskunft ließ Victorias Sorge, dass Robert unterwegs zu dem unheimlichen Black Tony nach Sturmarsh sein könnte, zur Gewissheit werden. Jedoch behielt sie diese Erkenntnis für sich, da sie inzwischen festgestellt hatte, dass Sir Frederic auf die Erwähnung Black Tonys jedes Mal mit einem Wutausbruch reagierte. Er wurde nicht müde zu betonen, was für ein elendiger Verbrecher dieser Kerl wäre und dass er seinem Neffen die Leviten lesen würde, falls er es tatsächlich gewagt haben sollte, die Gesellschaft eines Mörders und Straßenräubers zu suchen. Nach seiner anfänglichen Gleichgültigkeit überraschte Victoria diese zur Schau gestellte Empörung ihres Onkels ein wenig, aber obwohl es ihr auf der Zunge brannte, ihm das zu sagen, hütete sie sich davor, seinen Zorn noch weiter herauszufordern.
Selbst Gideon, der schon nach wenigen Tagen aus London zurückgekehrt war und anfangs noch Verständnis für Victorias Aufregung gezeigt hatte, hatte sich inzwischen der Meinung seines Vaters angeschlossen. Spielschulden oder ein Duell wären die einzigen Gründe für einen Mann zu verschwinden, so vermutlich auch für Robert, erklärte Gideon der empörten Victoria mit einem hämischen Grinsen, woraufhin diese zornig den Raum verließ.
Victoria hatte für ihren ein paar Jahre älteren, blasierten Cousin noch nie viel übrig gehabt. Wenn einer Spielschulden machte, dann wohl eher er und nicht Robert, dachte sie wütend, doch sie hütete sich, Gideon das ins Gesicht zu sagen, da ihr Cousin nicht nur hochmütig, sondern auch genauso auffahrend wie sein Vater sein konnte. Obwohl sie kein besonders inniges Verhältnis zu Gideon hatte, wusste sie von seiner Leidenschaft fürs Glücksspiel. Oft genug hielt er sich deswegen tagelang in London auf, sehr zum Ärger Sir Frederics. Anders als für Robert, der zwar gern einmal in seinem Lieblingsclub Freunde und Bekannte traf, aber die Spieltische mied, gehörten für Gideon Colwood durchzechte und durchspielte Nächte zu einem Leben voller Spaß dazu. Und wenn er einmal nicht an den Spieltischen saß, verbrachte er seine Nächte mit den leichten Mädchen der Londoner Halbwelt, wie Victoria von dem ein oder anderen ihrer Verehrer hinter vorgehaltener Hand erfahren hatte. Obwohl sie eigentlich nichts davon wissen sollte, kannte Victoria auch die Gerüchte, dass Sir Frederic schon während seiner kurzen Ehe mit der jüngeren Schwester von Victorias Mutter verschiedene Geliebte gehabt haben sollte, und es wunderte sie nicht, dass sein Sohn in seine Fußstapfen trat. Gideon schien in ihren Augen ein völliges Abbild seines Vaters zu sein, sowohl vom Charakter als auch äußerlich. Beide Männer, Vater und Sohn, waren groß und gut gebaut, auch wenn sich bei dem über fünfzigjährigen Sir Frederic ein gewisser Ansatz zur Fettleibigkeit zeigte, den er aber durch häufige Ausritte und Fechtübungen erfolgreich bekämpfte. Auch waren seine immer noch vollen, dunkelblonden Haare bereits von zahlreichen grauen Strähnen durchzogen, während Gideons goldblonde Locken sogar den Neid, aber noch häufiger die Bewunderung mancher jungen Dame der Londoner Gesellschaft hervorriefen. Ja, eine gewisse Attraktivität hätte ihm nicht einmal Victoria abgesprochen, sofern er nicht diesen blasierten Gesichtsausdruck zur Schau gestellt hätte, der jede Herzlichkeit vermissen ließ. Auch hierin war er seinem Vater überaus ähnlich.
Victoria versuchte also gar nicht erst, Sir Frederic oder ihren Cousin zu überzeugen, nach Sturmarsh zu reiten, um nach Roberts Verbleib zu forschen. Stattdessen beschloss sie kurzerhand, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Ein wenig unwohl war ihr dabei schon, denn sie hatte weder eine Zofe dabei noch irgendeine Anstandsdame, und ganz ohne männlichen Schutz eine Reise anzutreten, und sei sie noch so kurz, war für eine junge Dame eigentlich völlig undenkbar. Doch die Vorstellung, dass ihr geliebter Bruder sich womöglich in den Händen eines gemeinen Verbrechers befand, war kaum auszuhalten. Gewiss galt es auch zu bedenken, dass auch ihr Gefahr drohen könnte, wenn sie einen so üblen Schurken wie Black Tony aufsuchte. Jedoch musste sie ihn ohnehin erst einmal finden, und bis dahin würde sich für dieses Problem sicherlich eine Lösung finden.
Und nun, zwei Tage nach ihrem Gespräch mit dem Bauernjungen, befand sie sich mit dem Phaeton, den Robert gerade erst nach seiner Rückkehr aus Frankreich gekauft hatte und mit dem sie gemeinsam nach Fairinge gefahren waren, auf dem Weg zu dem berüchtigten Black Tony. Sie war verzweifelter denn je, denn inzwischen waren beinahe drei Wochen seit Roberts Verschwinden vergangen, ohne dass es ein Lebenszeichen von ihm gegeben hätte.
Die ganze Fahrt über grübelte Victoria immer wieder darüber nach, was geschehen sein könnte. Ihr Onkel hatte von Schwierigkeiten gesprochen, in denen ihr Bruder steckte, aber was für Schwierigkeiten sollten das sein? Robert hatte im Krieg gegen Napoleon als Lieutenant gedient, war für seine Tapferkeit und eine unbedeutende Verwundung bei Waterloo sogar ausgezeichnet und bei Kriegsende mit dreiundzwanzig Jahren in allen Ehren nach Hause entlassen worden. Das war gerade mal eben drei Monate her, und Victoria konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie jemand innerhalb so kurzer Zeit in Schwierigkeiten geraten sollte. Obendrein hatte Robert die meiste Zeit seit seiner Heimkehr mit ihr und ihrer Tante Albinia in London verbracht, ehe er gemeinsam mit Victoria für ein paar Tage zu ihrem Onkel Frederic nach Fairinge im Herzen der Grafschaft Kent gereist war. Jedenfalls hätten es nur ein paar Tage sein sollen, wenn Robert nicht plötzlich verschwunden wäre.
Victoria war verzweifelt, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was geschehen war. Ihr einziger Anhalt war dieser Black Tony, was seltsam genug war, denn was um Himmels willen sollte ihr Bruder von einem Verbrecher gewollt haben? Er musste einen triftigen Grund gehabt haben, so überstürzt zu diesem Mann aufzubrechen, den er bis dahin, zumindest Victoria gegenüber, nicht ein einziges Mal erwähnt hatte. Auch sonst hatte Victoria den Namen Black Tony vorher noch nie gehört. Ratlos fragte sie sich daher immer wieder, woher Robert Black Tony kennen mochte.
Nichtsdestotrotz gab es da noch eine andere merkwürdige Sache, die ihr hin und wieder durch den Kopf ging. Nachdem Robert mit ein paar gebrochenen Rippen und einem leicht verletzten Arm aus dem Krieg zurückgekehrt war, war er anfangs ziemlich in sich gekehrt gewesen. Victoria vermutete, dass ihn die Kriegserlebnisse belasteten, denn auch ein paar Jugendfreunde ihres Bruders waren bei Waterloo gefallen. Doch Robert sprach nicht mit ihr darüber, jedenfalls nicht in den ersten Tagen nach seiner Heimkehr. Nur einmal deutete er kurz an, dass er etwas gesehen habe, weshalb man ihn vermutlich irgendwann nach Whitehall bestellen würde. Beunruhigt wollte Victoria wissen, was es war, doch als Robert es erklären wollte, meldete der Butler einen Besucher an, und er kam nicht mehr dazu und erwähnte das Thema vorerst auch nicht mehr. Danach dauerte es nicht lange, bis Robert mit seiner Gesundheit auch seine alte Fröhlichkeit zurückgewann, und als immer mehr frühere Freunde dem Heimkehrer ihre Aufwartung machten und ihre Freude über seine Rückkehr aus dem Krieg zeigten, geriet das Thema irgendwann in Vergessenheit.
Dann, eines Tages jedoch, war Robert sehr aufgebracht, als er nachmittags aus seinem Club zurückkehrte. Lord Anthony Lockwood sei aus dem Gefängnis geflohen, berichtete Robert, und in seinen Augen, die ebenso dunkel und ausdrucksvoll waren wie die seiner vier Jahre jüngeren Schwester, lag ein nachdenklicher Ausdruck.
„Ist das nicht dieser Offizier, der bei der Schlacht von Waterloo seinen Vorgesetzten erschossen hat, als der ihn hindern wollte zu desertieren?“, überlegte Victoria laut.
Robert nickte knapp, während er sich in einen Sessel fallen und von Victoria eine Tasse Tee einschenken ließ. „Woher weißt du davon?“
„Ach, das stand doch in allen Zeitungen. Die Times hat darüber ausführlich berichtet und auch die Gazette. Hast du nichts davon gelesen?“
Robert schüttelte den Kopf. „Nein. Ich glaube, ich war in den letzten Wochen zu sehr damit beschäftigt, mich wieder einzuleben und alte Bekanntschaften aufzufrischen. Heute erst hab ich im Club von dem Prozess gehört. Ich muss gestehen, ich war ziemlich überrascht. Ich wusste bis vor einer Stunde nicht einmal, dass man Lockwood den Prozess gemacht hat, geschweige denn, dass er verurteilt wurde. Wie ich gehört habe, sollte er hingerichtet werden. Weiß der Himmel, wie er es geschafft hat, zu entkommen.“
Robert schien gleichermaßen erregt wie verwirrt, und so hakte Victoria nach: „Kennst du Lockwood denn? Ich meine, du hast ihn noch nie erwähnt, aber sein Schicksal scheint dir sehr nahezugehen. Und wieso ist es seltsam, dass das Urteil schon gefällt wurde?“
Robert starrte grübelnd ins Leere. Dann erklärte er gedehnt: „Erinnerst du dich, dass ich dir kurz nach meiner Heimkehr sagte, ich hätte etwas gesehen, weshalb man mich nach Whitehall bestellen könnte? – Ich kam nicht dazu, dir zu erzählen, was es war, und später habe ich nicht mehr daran gedacht, aber … ich war dabei, als Colonel Norton erschossen wurde, und habe den Mord gesehen.“
„Gütiger Himmel, wie entsetzlich!“
Robert zuckte die Achseln. „Noch im Lazarett habe ich meine Vorgesetzten darüber informiert. Ich hätte also gedacht, dass man mich als Zeugen vorlädt. Ich habe mich, ehrlich gesagt, schon die ganze Zeit über gewundert, dass sich in dieser Sache bisher niemand bei mir gemeldet hat. Und jetzt höre ich, dass es längst einen Prozess und sogar ein Urteil gegeben hat!“
„Oh. - Das ist in der Tat seltsam“, stimmte Victoria zögernd zu. „Aber vielleicht gab es ja genügend andere Zeugen.“
Doch ihr Bruder schüttelte den Kopf. „Nein. Da waren nur Colonel Norton und dieser Lieutenant. Ich selbst war kaum noch bei Bewusstsein, ich glaube, die beiden haben mich nicht einmal bemerkt, sondern mich für tot gehalten, so wie die vielen anderen, die in der Schlacht gefallen sind. Aber ich habe genau gesehen, was passiert ist, und ich sage dir, Vicky, da stimmt etwas nicht. Dieser Lieutenant, der wollte gar nicht desertieren. Der hat einfach so geschossen. Das war ein kaltblütiger Mord.“
„Nun, dann ist es nur gerecht, dass man Lockwood zum Tode verurteilt hat“, erklärte Victoria angewidert. „Ich hoffe wirklich, dass man diesen Unmenschen bald wieder einfängt.“
Ihr Bruder zögerte mit der Antwort. „Ich frage mich, aufgrund welcher Beweise man Lockwood verurteilt hat. Wieso heißt es, Norton habe ihn am Desertieren hindern wollen? Wo hat das Gericht die Zeugen hergenommen? Glaub mir, Vicky, irgendetwas ist da faul.“
Victoria warf ihrem Bruder einen verblüfften Blick zu. „Wirklich Robert, was soll denn daran faul sein, wenn ein Mann, der ganz offensichtlich ein Mörder ist, verurteilt wird? Faul daran ist höchstens die Tatsache, dass es ihm gelungen ist zu fliehen.“
Robert versuchte, mit einem Kopfschütteln seine Verwirrung loszuwerden. „Ich weiß es nicht, Vicky. Aber es gibt da ein paar Dinge … Ich werd´s dir ein anderes Mal erklären. Und dennoch … ich würde zu gern mal mit Anthony Lockwood reden.“
„Mit einem entflohenen Mörder?“, entfuhr es Victoria. „Wozu, um alles in der Welt, soll das denn gut sein?“
Robert grinste schief. „Weiß ich auch nicht so genau. Aber ich habe so ein Gefühl …“
„Ein Gefühl!“, keuchte Victoria und ließ ihre Stickerei sinken. „Wirklich, Robert, du bist nicht ganz bei Trost! Ein Gefühl, dass du mit einem Mörder reden musst! Ich glaube tatsächlich, der Krieg hat dir deinen Verstand geraubt!“
Erstaunlich ernst erwiderte Robert: „Vielleicht hat er das. Aber vielleicht habe ich auch recht. Ich meine es ernst, Vicky. Ich habe gesehen, wie Colonel Norton getötet wurde. Im Lazarett hat man mich dazu nur erstaunlich kurz befragt. Und beim Prozess bin ich noch nicht einmal als Zeuge geladen worden, obwohl ich vermutlich der Einzige bin, der den Mord gesehen hat. Aber ich sehe, wie sehr dich das Ganze ängstigt. Lassen wir das Thema also.“
„Nein, Robert, ich höre dir gern zu, wenn du darüber reden willst, und ich habe ganz gewiss keine Angst“, widersprach Victoria hastig. „Es ist nur einfach so, dass ich nicht verstehe, was dich so aufregt.“
„Nun, ich weiß es ja selbst nicht so genau. Wie gesagt, ich war nur noch halb bei Bewusstsein, als der Mord geschah, aber ich bin mir trotzdem ziemlich sicher, dass da niemand sonst in der Nähe war. Ich wüsste einfach gern, wie es gelungen ist, den Täter zu ermitteln und dann auch noch Beweise für seine Schuld zu finden. Mir ist das Ganze rätselhaft.“
Victoria seufzte. „Ach, Robert, ich glaube, du steigerst dich da in etwas rein. Der Richter und die Jury werden schon gewusst haben, was sie tun. Wenn sie den Mann verurteilt haben, wird er auch schuldig sein.“
„Hm“, war alles, was Robert über die Lippen brachte. Und nach einer Weile setzte er kopfschüttelnd hinzu: „Ich frage mich, wieso man Lockwood nicht vor ein Militärgericht gestellt hat. Schließlich war er Offizier, und das Verbrechen geschah auf dem Schlachtfeld.“
„Ja, ich weiß, die Zeitungen haben erwähnt, dass er Captain bei den Royal Horse Guards war, aber -“
„Captain der Royal Horse Guards?“, entfuhr es Robert, wobei er seine Teetasse sinken ließ, die er gerade zu den Lippen führen wollte. „Eines unserer besten Regimenter, und nur die Tapfersten haben dort gedient! Wirklich, Vicky, dann verstehe ich erst recht nicht, wieso Lockwoods Fall im Old Bailey verhandelt wurde! Ich hätte gedacht, dass man sich in Whitehall darum kümmert!“
„Ja, das hätte ich allerdings auch vermutet, zumal in den Zeitungen stand, Lockwood sei einer von Wellingtons Aide-de-Camps gewesen. Daher -“
„Donnerwetter! Einer von Wellingtons schnellen Reitern? Aber einer von Wellingtons Männern würde doch niemals … Vicky, bist du ganz sicher, dass das stimmt, was du da sagst? Ich meine, wenn Lockwood wirklich unter Wellingtons Kommando stand - wer, um alles in der Welt, hat ihn dann auf die Anklagebank des Old Bailey gebracht?“
„Nun, weißt du, ich habe die Berichte leider nicht so genau gelesen, aber ich glaube mich zu erinnern, dass die Rede von einem privaten Ankläger war.“
„Ein privater Ankläger? Beim Jupiter, das wird ja immer besser!“
Verwundert, wie finster ihr Bruder dreinblickte, fuhr Victoria fort: „Weißt du eigentlich, dass Lockwoods eigener Vater von seiner Schuld überzeugt zu sein scheint?“
„Wie kommst du darauf?“, fragte Robert überrascht.
„Nun, die Zeitungen haben geschrieben, dass Lord … Ach, ich habe seinen Namen vergessen … Na ja, jedenfalls Lockwoods Vater, der soll erst während der Anhörung vor dem Magistrat nach London gekommen sein und die Stadt noch am gleichen Tag wieder verlassen haben. Er hat nicht einmal die Verhandlung im Old Bailey abgewartet. Wenn Lockwoods Vater an die Unschuld seines Sohnes geglaubt hätte, wäre er doch bestimmt geblieben. Und abgesehen von Lockwoods Schwester soll nicht ein einziger Verwandter oder Freund bei der Verhandlung anwesend gewesen sein.“
„Zu dumm, dass ich nichts von alledem mitbekommen habe!“, gab Robert kopfschüttelnd zurück. „Ich wünschte wirklich, ich hätte die Sache nicht auf die leichte Schulter genommen und mich mehr damit auseinandergesetzt!“
„Sag mal, Robert“, erkundigte Victoria sich stirnrunzelnd, „gibt es denn irgendwelche Gründe, daran zu zweifeln, dass Lockwood heimtückisch und boshaft gehandelt hat? Ich meine, du sagst, du hast den Mord gesehen. Hat der Mann vielleicht aus … aus Notwehr heraus gehandelt? Ist es das, was dich so aufregt?“
Doch Robert schüttelte den Kopf. „Nein, das war keine Notwehr. Das war ein heimtückischer Mord. Colonel Norton stand mit dem Blick aufs Schlachtfeld, und der Lieutenant kam von hinten auf ihn zugelaufen und schoss ihn nieder.“
„Und so eine boshafte Kreatur hat es auch noch geschafft, aus dem Gefängnis zu entkommen!“, schnaubte Victoria verächtlich. „Der Galgen ist noch zu gut für so einen niederträchtigen Mörder!“
„Ja, der Mörder gehört an den Galgen, keine Frage“, stimmte Robert finster zu. „Ich frage mich ja nur, ob … Na ja, was soll´s.“ Er zuckte die Achseln, lächelte verlegen und seufzte. „Vermutlich hast du recht, und ich sehe Gespenster. Lassen wir´s fürs Erste gut sein. Davon abgesehen – wollten wir nicht Tante Albinia ins Theater begleiten? Dann wird es höchste Zeit, dass wir uns umziehen.“

Das Geheimnis von Warrington Manor (Warrington Trilogie 1)

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