Warrington - Verschlungene Pfade (Warrington Trilogie 3)
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Es hatte aufgehört zu regnen, als Robert Ashton, Earl of Westshire, vor die Tür von Westshire House trat und sich auf den Weg zu seinem Club machte. Die Feuchtigkeit der Regenschauer hing noch in der Luft, das Kopfsteinpflaster der Straße glänzte im fahlen Licht der bei Einbruch der Dunkelheit entzündeten Laternen, und der Abend war unangenehm kühl. Grund war eine Kältewelle, die offenbar kein Ende finden wollte. Sie hatte nicht nur London, sondern ganz Europa erfasst. Ein Vulkanausbruch, irgendwo am anderen Ende der Welt im letzten Jahr, sollte verantwortlich sein, dass der Himmel wochenlang grau und wolkenverhangen blieb. Obgleich es schwer vorstellbar schien, dass ein so weit entferntes Ereignis Auswirkungen auf das englische Wetter haben sollte, war es jedenfalls eine Tatsache, dass sich die Sonne kaum noch blicken ließ. Ihre wärmenden Strahlen fehlten, und so lagen die Temperaturen, trotz des nahenden Frühlings, selbst tagsüber nur knapp über dem Gefrierpunkt.
Der junge Earl schlug zum Schutz vor der Kälte den Kragen seines mit drei Pelerinen besetzten eleganten Mantels hoch und zog sich den Dreispitz tiefer in das schmale, von dunkelbraunen Haaren umrahmte Gesicht. Während er die Stufen vor seiner Haustür hinunter schritt, ließ er seinen Blick aufmerksam die halbdunkle Straße entlangschweifen. Eine Mietkutsche rollte ratternd an ihm vorbei, aber er schenkte ihr keine Beachtung. Wenn er die Bequemlichkeit einer Kutsche gesucht hätte, hätte sein eigener Phaeton in den Stallungen gestanden, oder der große Landauer, den sein Vater früher für seine Ausfahrten benutzt hatte. Doch Robert stand der Sinn nach Bewegung. Er hatte es gehasst, wochenlang nicht richtig gehen und laufen zu können, nachdem er sich Anfang des Jahres den Fuß gebrochen hatte. Die Verletzung hatte ihn zur Hilflosigkeit verdammt, und das zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Umso mehr nutzte er jetzt jede Gelegenheit, wieder in Form zu kommen. Nun gut, vielleicht nicht jede, denn sicherlich nutzte es seiner Gesundheit herzlich wenig, wenn er fast jeden Abend in seinem Club verbrachte und mehr Alkohol trank, als ihm guttat. Seine Schwester würde vermutlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie sehen würde, in was für einem Zustand er neuerdings manchmal spät in der Nacht nach Hause kam. Aber Victoria war inzwischen verheiratet und lebte auf Warrington Manor, dem prächtigen Landsitz seines Schwagers Anthony Lockwood, an der Südküste Kents. Und nicht einmal seine Tante Albinia, die nie müde geworden war, ihn zu bemuttern – selbst nicht, nachdem er schon als Offizier in den Krieg gegen Napoleon gezogen war – war im Augenblick da, um ihn für sein ausschweifendes Leben zu tadeln. Denn sobald seine Tante erfahren hatte, dass Victoria ein Kind erwartete, hatte sie sich auf nach Warrington Manor gemacht, um ihrer Nichte in den Monaten ihrer Schwangerschaft beizustehen. Auch wenn er sich einzureden versuchte, dass er weder seine Tante noch seine Schwester sonderlich vermisste, so war es doch still geworden in dem großen Haus, das er, wenn er von den Dienstboten einmal absah, augenblicklich völlig allein bewohnte. Nicht, dass er einsam war, Gott bewahre! Er hatte genügend Freunde und ehemalige Kameraden vom Militär, die dafür sorgten, dass er Gesellschaft hatte, wenn er es wollte. Im Kampf gegen Napoleons Truppen war er mit einigen von ihnen durch Dick und Dünn gegangen, und diese Verbundenheit bestand auch in Friedenszeiten fort. Dazu kamen alle möglichen gesellschaftlichen Anlässe, zu denen er als unverheirateter junger Earl hartnäckig immer wieder eingeladen wurde. Ebenso hartnäckig blieb er diesen Veranstaltungen fern, vor allem wenn es sich um größere Bälle handelte, die vorrangig ein Heiratsmarkt für Söhne und Töchter aus guter Familie waren. Denn obgleich er vor ein paar Monaten noch anders darüber gedacht hatte, so verspürte er im Augenblick nicht die geringste Neigung, eine Ehe einzugehen. Tatsächlich hatte er, seit ihn die jüngere Schwester seines Schwagers mehr oder weniger hatte abblitzen lassen, kaum noch eine Frau wirklich angesehen – mit einer Ausnahme vielleicht. Was schon seltsam genug war, da es sich bei dieser Ausnahme um eine zwar ungemein attraktive, aber gleichermaßen streitlustige junge Lady handelte, die von Anfang an eine Abneigung gegen ihn gefasst zu haben schien! Gewiss mochte das damit zusammenhängen, dass sie in ihm zu Beginn ihrer Bekanntschaft eine Konkurrenz für ihren Bruder um die Gunst Lady Elaines gesehen hatte. Als ob Anthonys Schwester für ihn, Robert, auch nur noch ein Auge übrig gehabt hätte, nachdem Whitthurst auf der Bildfläche erschienen war! Und, um dem ganzen die Krone aufzusetzen, hatte Miss Whitthurst ihm auch noch zu verstehen gegeben, dass sie ihn für einen verweichlichten Aristokraten hielt, der ihrem Bruder nicht das Wasser reichen konnte und zu nichts nutze war! Obwohl sie ganz genau gewusst hatte, dass er durch seinen gebrochenen Fuß mehr als gehandicapt gewesen war! Was ihn nicht davon abgehalten hatte, sich an der Rettungsaktion für Elaine und Whitthurst zu beteiligen. Aber hatte die scharfzüngige Furie es ihm etwa gedankt, dass er sie dabei mitgenommen hatte? Oder dass er sich nach der geglückten Rettung edel zurückgezogen hatte, als ihm klar geworden war, wie tief die Liebe zwischen Elaine und Whitthurst war? Zugegeben, ihm wäre auch kaum etwas anderes übriggeblieben, da sogar Anthony der Verbindung zwischen Elaine und Whitthurst seinen Segen gegeben hatte. Aber trotzdem hätte Miss Whitthurst ihm nicht unbedingt das Gefühl geben müssen, auf ganzer Linie geschlagen worden zu sein! Seltsamerweise ärgerten ihn Miss Whitthursts Worte, ihr Bruder hätte ihm die Frau, die er heiraten wollte, vor der Nase weggeschnappt, mehr als die Tatsache, dass es so war. Und zu allem Überfluss hatte sie ihm dann auch noch klargemacht, dass seine Gesellschaft ihr lästig war! Denn als er glaubte, sie wäre niedergeschlagen, und anbot, trotz seines gebrochenen Fußes mit ihr spazieren zu gehen, lehnte sie ab und sagte, sie wäre lieber allein! Schon der Gedanke daran war maßlos irritierend! Weshalb er wahrscheinlich froh sein konnte, dass die schnippische junge Dame nach den dramatischen Ereignissen auf Moire Keep ebenso schnell wieder aus seinem Leben verschwunden war, wie sie hineingeplatzt war. Im Grunde müsste er sich sogar glücklich schätzen, dass er jetzt seine Ruhe hatte. Und dennoch hatte er in letzter Zeit immer öfter das Gefühl, dass in seinem Leben etwas fehlte. Aber jammern half auch nicht, weshalb er energisch versuchte, das Beste aus seiner Situation zu machen. Wobei er sich immer öfter fragte, ob es wirklich das Beste war, jeden Abend auszugehen, sich bis in die Morgenstunden hinein oberflächlich zu vergnügen und dann mehr oder weniger unzurechnungsfähig ins Bett zu fallen! Denn obgleich manche Leute glaubten, dass das Leben eines Earls vorrangig aus Müßiggang bestünde, so war er doch nach seiner Rückkehr aus dem Krieg fest entschlossen gewesen, sich künftig ernsthaft um den Familienbesitz und die damit verbundenen Aufgaben zu kümmern. Aber bei all seinen schönen Plänen hatte er nicht damit gerechnet, dass ihm das Schicksal einen kräftigen Strich durch die Rechnung machen würde!
Er merkte, wie die Kälte ihm, trotz seines warmen Mantels, den Rücken hochkroch, und schritt flotter aus. Unwillkürlich fragte er sich, ob das Frösteln wirklich von der Kälte oder nicht doch eher von einem gewissen Unbehagen herrührte, als er durch die menschenleeren Straßen marschierte. Bis zu seinem Club war es zwar nicht weit, aber der Weg führte durch ein paar finstere Gassen, und es war kaum jemand zu Fuß unterwegs, wie er mit zusammengekniffenen dunklen Augen feststellte. Obwohl er kein ängstlicher Typ war, packte er instinktiv seinen Spazierstock, in dessen Innerem ein zierlicher Degen versteckt war, fester. Tatsächlich war der Degen nicht die einzige Waffe, die er bei sich trug. Seit den wiederholten heimtückischen Anschlägen auf sein Leben war es ihm zur Gewohnheit geworden, neben seinem versteckten Degen auch seine Armeepistole mitzuführen. Nicht, dass ihm das etwas genützt hätte, als jemand ein paar Tage nach Neujahr den Sattelgurt seines Sattels angeschnitten hatte! Woraufhin er in vollem Galopp vom Pferderücken gestürzt war und sich den Knöchel gebrochen hatte. Noch hatte es geholfen, als ihm ein paar Monate zuvor ein über den Weg gespanntes Seil beinahe zum Verhängnis geworden war. Es mochte also durchaus angehen, dass ihm die Waffen auch diesmal nichts nützten, falls die Verbrecher – allen voran sein krimineller Onkel Sir Frederic – sich erneut etwas Hinterhältiges einfallen ließen. Aber zumindest wusste er sich seiner Haut zu wehren, falls noch einmal – wie gerade vor ungefähr einer Woche geschehen - aus irgendeiner dunklen Ecke eine Gestalt hervorsprang, um ihn zu überfallen. Er hatte den vermummten Angreifer abwehren und in die Flucht schlagen können, leider ohne herausfinden zu können, ob es sich bei dem Halunken um einen einfachen Straßenräuber handelte oder um jemanden, der es gezielt auf ihn abgesehen hatte. Falls Letzteres der Fall war, musste er mit weiteren Überfällen rechnen. Genügend Gelegenheiten dafür würde es geben, da er nicht nur tagsüber häufig unterwegs war, sondern auch fast jeden Abend ausging. Doch ganz bestimmt würde er nicht in seinem einsamen, großen Haus versauern und sich darin verschanzen, nur weil ein paar größenwahnsinnige Verrückte meinten, sie müssten seinem Leben ein Ende setzen!
Bei dem Gedanken daran, wie oft er in den letzten Monaten nur knapp dem Tod entronnen war, presste er grimmig die wohlgeformten festen Lippen zusammen und reckte das Kinn vor. Beim Zeus, er hatte nicht den Krieg überlebt und sogar Waterloo überstanden, nur um sich dann in der Heimat in Friedenszeiten umbringen zu lassen! Wenngleich, genau genommen, seine augenblicklichen Schwierigkeiten am Ende des Krieges angefangen hatten. Um präzise zu sein, nachdem er während der Schlacht von Waterloo, selbst verwundet und nur noch halb bei Bewusstsein, den Mord an einem Oberst beobachtet hatte. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg nach London hatte er dann erfahren, dass man einen Offizier für dieses Verbrechen unter befremdlichen Umständen angeklagt und zum Tode verurteilt hatte, ohne dass Robert als Zeuge geladen worden wäre. Auch wenn er damals noch nicht mit Sicherheit gewusst hatte, dass der angeklagte junge Captain tatsächlich unschuldig war, hatte es ihn dennoch erleichtert, zu hören, dass der Verurteilte, Anthony Viscount Lockwood, kurz vor der geplanten Hinrichtung hatte fliehen können.
Nun, Anthony Lockwood war inzwischen Victorias Ehemann und somit sein Schwager. Und obendrein war er einer der großartigsten und anständigsten Männer, die Robert je kennengelernt hatte. Allein schon deshalb war Robert auch im Nachhinein immer noch ungemein froh über die Entwicklung der Dinge, obgleich diese Entwicklung einige unerwünschte Komplikationen mit sich gebracht hatte. Jedoch hatte er anfangs, als ihn die Ungereimtheiten im Mordfall Oberst Nortons veranlasst hatten, eigene Nachforschungen anzustellen, nicht ernstlich damit gerechnet, dass ihn das in Lebensgefahr bringen würde. Aber er hatte schließlich auch kaum ahnen können, dass er mit seinen Nachforschungen eine Gruppe von Verschwörern – darunter sein eigener Onkel! - gegen sich aufbringen würde. Noch hatte er mit der Perfidität dieser einflussreichen und machtgierigen Männer gerechnet, die nicht nur hinter dem Mord an dem Oberst und der falschen Anklage gegen Anthony Lockwood steckten, sondern obendrein ein Komplott gegen die Krone schmiedeten. Nun, Gott sei Dank war es zumindest gelungen, allen Widrigkeiten zum Trotz Anthonys Unschuld doch noch zu beweisen. Aber obwohl zwischenzeitlich sogar ein Teil der Verschwörer zur Strecke gebracht worden war, hatten sie bisher nicht herausfinden können, wer die Hintermänner und Drahtzieher der ganzen Geschichte waren. Ebenso unerfreulich war der Umstand, dass Roberts Onkel Sir Frederic und Lord Bellamy, zwei der führenden Köpfe der Verschwörung und die Hauptverantwortlichen für die Überfälle auf ihn und Anthony, immer noch auf freiem Fuß waren. Zwar waren sie im Herbst zunächst verhaftet und zu lebenslanger Verbannung verurteilt worden. Doch Anfang des Jahres war ihnen die Flucht geglückt. Nach einer weiteren Kette dramatischer Ereignisse, die zu Lady Elaines Entführung und anschließender Befreiung aus der halb verfallenen Festung Moire Keep geführt hatten, waren die Verbrecher anschließend per Schiff aus dem Land geflohen. Bislang waren zu Roberts Verdruss alle Versuche, dieser Männer erneut habhaft zu werden, erfolglos geblieben. Ein gewisses Risiko, dass sie irgendwann zurückkehren und aufs Neue Unheil stiften würden, bestand somit immer. Obendrein war Anthonys und Elaines Vater, der Earl of Warrington, der seit dem Mordprozess gegen seinen Sohn zunächst als tot und später als verschollen galt, immer noch nicht wieder aufgetaucht. Nach wie vor hofften alle täglich auf ein Lebenszeichen des Earls. Doch obgleich Roberts Schwager Anthony private Ermittler mit Nachforschungen beauftragt hatte, blieb diese Hoffnung bislang unerfüllt. Die einzige Spur, die es bisher gab, schien darauf hinzudeuten, dass es den Earl, der ebenfalls Opfer der Verbrecher geworden war, in die jungen Vereinigten Staaten verschlagen hatte. Sein weiteres Schicksal blieb ungewiss.
Robert fuhr nervös herum, als er hinter sich ein metallisches Schlagen vernahm. Doch es war nur das schmiedeeiserne Tor eines Gartenzauns, das nicht verschlossen war und im Wind hin und her pendelte. Aufatmend setzte er seinen Weg fort. Aber das Geräusch hatte seinen Gedankengang unterbrochen, und statt den Faden wieder aufzunehmen, runzelte er missmutig die Stirn. Es war einfach lächerlich, wie schreckhaft er neuerdings war! Zum Teufel auch, im Krieg hatte er ständig sein Leben aufs Spiel gesetzt! Und jetzt fehlte nicht viel, dass er Herzrasen bekam, nur weil die Straßen dunkler und stiller wirkten als für gewöhnlich und er sich verdächtige Geräusche einbildete! Doch so lächerlich es auch war, er war nichtsdestotrotz froh, als er nach einem angespannten Fußmarsch endlich seinen Club erreichte. Beim Betreten des Kaminzimmers erblickte er, wie erwartet, ein paar bekannte Gesichter. Er setzte sich zu drei Männern an den Tisch, die er eher als weitläufige Bekannte denn als Freunde bezeichnen würde, ließ sich ein Glas Cognac kommen und spielte ein paar Runden Karten. Aber obwohl ihm das Spielglück hold war, verlor er schon bald das Interesse. Zur Verwunderung seiner Spielpartner und des Personals des Clubs erhob er sich schon nach weniger als einer Stunde wieder und ließ sich Hut und Mantel bringen.
Sobald er wieder auf der kalten, verregneten Straße war, schalt er sich einen Narren, dass er die Wärme und Behaglichkeit seines Clubs so schnell wieder verlassen hatte. Aber in letzter Zeit ertappte er sich immer öfter dabei, dass er den Abenden im Club nichts mehr abgewinnen konnte. Noch weniger verlockend als eine durchzechte Nacht war allerdings die Aussicht auf einen einsamen Abend allein in seinem großen, leerstehenden Haus. Missmutig fragte er sich daher, was er mit dem angebrochenen Abend anfangen sollte. Da ihm nichts Verlockendes einfiel, würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als nach Hause zurückzukehren. Die Vorstellung war deprimierend genug, dass er sich für einen Umweg entschied, obgleich er dabei über sich selbst den Kopf schüttelte. Schließlich war es geradezu paradox, dass er grundlos durch die Straßen lief, nachdem er sich nur eine Stunde zuvor nicht schnell genug von der Straße in die Sicherheit seines Clubs hatte flüchten können. Jedoch war er andererseits auch nicht gewillt, sich sein Verhalten von irgendwelchen irrationalen Ängsten aufdiktieren zu lassen! Entschlossen marschierte er weiter.
Eine Viertelstunde später erreichte er den Hannover Square, wo sich eine imposante Villa an die andere reihte. Er brauchte jetzt nur noch in die Brook Street abzubiegen, die ihn auf direktem Weg nach Hause in die Upper Brook Street führen würde. Doch er verlangsamte seinen Schritt, als er an einer besonders prächtigen Backsteinvilla vorbeikam. Ihre bodentiefen Fenster waren hell erleuchtet, Kutschen und Equipagen rollten vor, und elegant gekleidete Leute strömten auf den Eingang zu. Der Musikabend der Herzogin of Clarendon, erinnerte Robert sich verdrossen. Er hatte eine Einladung erhalten, die er aber umgehend in den Kamin geworfen hatte. Denn auf Musikabenden wurde Klavier gespielt, und Klaviermusik war augenblicklich das Letzte, was er hören wollte! Besser also, er machte, dass er weiterkam.
„Lord … Westshire?“
Mit einem unterdrückten Stöhnen wandte Robert sich um, als er die wohlklingende weibliche Stimme vernahm. Eine schlanke junge Lady in Abendkleidung kam von der Seite aus auf ihn zu, am Arm eines gutgekleideten, hochgewachsenen Mannes, der höchstens ein paar Jahre älter als er selbst sein mochte. Die beiden mussten aus dem luxuriösen Zweispänner gestiegen sein, der ein paar Meter entfernt am Straßenrand hielt.
Robert blinzelte, als er die junge Frau, die ihn leicht fragend ansah, beim Näherkommen erkannte. Für den Bruchteil einer Sekunde starrte er sie sprachlos an. Beim Zeus, er hatte gewusst, dass Miss Phoebe Whitthurst attraktiv war! Schon als sie vor einigen Monaten in seinen Salon geplatzt war, auf der Suche nach ihrem Bruder, hatte ihm bei ihrem Anblick beinahe der Atem gestockt – und das, obwohl er damals noch geglaubt hatte, in eine andere verliebt zu sein! Aber in silbern schimmernder Abendrobe, mit kunstvoll hochgesteckten kastanienbraunen Locken und von der Kälte geröteten Wangen sah sie geradezu umwerfend aus! Ihre hellgrauen Augen blitzten, und ihre betörend weich geschwungenen Lippen verzogen sich zu einem zögernden Lächeln, während sie ihm ihre Hand zum Kuss reichte. Leicht verspätet erinnerte er sich seiner Manieren.
„Miss Whitthurst“, näselte er, so gleichmütig wie möglich. Bemüht, seine lästige Verwirrung abzustreifen, beugte er sich formvollendet über ihre Hand. „Was für eine Überraschung.“
„Ja, nicht wahr?“, nickte sie atemlos, innerlich betend, dass der Earl of Westshire nicht merkte, wie ihr Pulsschlag bei seiner Berührung zu flattern begann. Betont gelassen ließ sie ihren Blick über seine hochgewachsene Gestalt gleiten und setzte hinzu: „Es ist eine Freude, Sie ohne Krücken zu sehen, Mylord.“
„Und eine noch viel größere Freude, sie los zu sein“, gab er zurück, wobei für den Bruchteil einer Sekunde weiße Zähne in einem Lächeln von entwaffnender Wärme aufblitzten. Es stand so sehr in krassem Widerspruch zu seiner ihr gegenüber bisher oft unwirschen Art, dass es Phoebe den Atem verschlug. Doch schon im nächsten Augenblick machte sein herzliches Lächeln einem finsteren Stirnrunzeln Platz, als er den Blick abschätzend über sie gleiten ließ und sich schleppend erkundigte: „Wie kommt es, dass wir uns hier begegnen, Miss Whitthurst? Ich dachte, Sie wären zuhause in Yorkshire?“
Seinen unfreundlichen Ton ignorierend, hob sie eine feingeschwungene dunkle Augenbraue und lachte: „Das war ich auch. Aber meine Familie ist auf dem Weg nach Warrington Manor, und da lag es einfach nahe, einen Abstecher nach London zu machen. Vor allem, da die Herzogin of Clarendon eine alte Freundin meiner Großmutter ist. Immerhin fiel unsere Reise nach Kent zeitlich mit ihrem Musikabend zusammen, sodass wir ihn unmöglich ignorieren konnten. Außerdem liebe ich Klaviermusik! Sie nicht auch?“
„Da Sie Ihre Familie erwähnen …“, wich Robert der Beantwortung ihrer Frage mit einem Stirnrunzeln aus. „Wo ist sie? Ich meine, wenn die Herzogin doch eine Freundin Ihrer Großmutter ist, hätte ich erwartet, dass Ihre Familie Sie begleitet.“
Phoebes Lächeln erstarb, während sie langsam ihre Hand sinken ließ und einen Schritt zurücktrat. „Ich weiß wirklich nicht, was Sie das angeht und wieso Sie so gereizt wirken, Mylord“, bemerkte sie irritiert, wobei sie sich eine Närrin schalt, dass sie auch nur für einen Augenblick geglaubt hatte, der Earl of Westshire würde sich heute von charmanterer Seite zeigen als für gewöhnlich. Gütiger Himmel, der Mann war arrogant, selbstherrlich und obendrein nicht im Geringsten an ihr interessiert! Allein das kurze Zögern, ehe er sich entschlossen hatte, sie zu begrüßen, sprach Bände genug! Wie konnte es da nur angehen, dass sie jedes Mal kurz davor war, kurzatmig zu werden, und ihr die Worte fehlten, wenn sie in seiner Nähe war!
„Sie haben recht, es geht mich nichts an, und ich entschuldige mich für meine Einmischung“, stimmte er ihr überraschend zu, wobei die Missbilligung in seiner tiefen Stimme dennoch nicht zu überhören war. „Was nichts daran ändert, dass eine junge Dame nicht unbegleitet auf Gesellschaften gehen sollte.“
Oh, der Mann war unmöglich!, seufzte Phoebe innerlich und verdrehte die Augen. Dennoch hatte er ihrem Bruder Garreth geholfen, wie sie sich ausgerechnet in diesem Moment erinnerte, was sie sofort milder stimmte. Und da er obendrein immerhin einen Ansatz von Entgegenkommen zeigte, erklärte sie mit einem versöhnlichen Lächeln: „Nun, Ihr Standpunkt in allen Ehren, Mylord. Aber wie Sie sehen, bin ich nicht unbegleitet. Und tatsächlich ist es so, dass meine Mutter und meine Schwester mit einer schweren Erkältung das Bett hüten. Verständlicherweise wollte mein Stiefvater sie nicht allein in der fremden Unterkunft lassen. Und warum auch, wo doch Luke da war? Er ist natürlich sofort als Eskorte eingesprungen, obwohl er heute erst in London angekommen ist und sich normalerweise nichts aus Musikabenden macht.“
„Oh, wirklich“, ätzte Robert, ohne den jungen Mann an ihrer Seite auch nur eines Blickes zu würdigen. „Wie zuvorkommend von ihm.“
„Ja, nicht wahr?“, stimmte Phoebe zu, aber ihre Augen blitzten kriegerisch auf. Lieber Himmel, der Earl schien es geradezu darauf anzulegen, sie in Rage zu bringen! Aber so schnell würde es ihm nicht gelingen! Sie setzte daher ihr freundlichstes Lächeln auf und erklärte scheinbar leichthin: „Übrigens muss ich mich entschuldigen, dass ich offenbar mal wieder völlig meine Manieren vergesse, denn ich glaube, Sie beide wurden einander noch gar nicht richtig vorgestellt. Lord Westshire, darf ich Sie also mit dem ehrenwerten Luke Beaumont bekanntmachen?“
Robert brachte mit Mühe eine höfliche Antwort zustande und stellte sich zähneknirschend seinerseits dem jungen Mann vor. Ehrenwert? - Ha! Natürlich war es nur ein Höflichkeitstitel, der besagte, dass der Bursche entweder der Sohn eines Viscounts oder eines Barons war. Aber wenn er je einem jungen Mann begegnet war, der diesen Titel zu Unrecht trug, dann diesen! Allein schon das spöttische Grinsen, das über die markanten und viel zu gutaussehenden Gesichtszüge von Miss Whitthursts selbstsicherem Begleiter huschte, sprach Bände! Der Kerl war ein Lebemann und Schürzenjäger, da bestand nicht der geringste Zweifel! Und ausgerechnet solch einem Hallodri vertraute Miss Whitthursts Stiefvater seine Stieftochter an? Der Mann musste den Verstand verloren haben!
Das Objekt seiner finsteren Betrachtungen deutete unterdessen eine höfliche Verbeugung an und bemerkte, mit einem amüsierten Glanz in den leuchtend grünen Augen: „Es ist mir ein ausgesprochenes Vergnügen, Lord Westshire. Jedoch erwartet die Herzogin uns, und ich möchte sie nicht warten lassen. Wenn wir uns also weiter unterhalten wollen, sollten wir besser hineingehen.“
Robert straffte den Rücken. „Bedaure, Musikabende sind nichts für mich.“
„Oh, manchmal haben solche Abende mehr zu bieten, als man vorher denkt“, spottete der ehrenwerte Lebemann mit einem so vielsagenden Blick auf die betörend hübsche junge Frau an seiner Seite, dass Robert mit den Zähnen knirschte. Verdammt auch, es ging ihn nichts an, mit wem Miss Whitthurst ihre Abende verbrachte. Aber dieser arrogante Frauenjäger konnte unmöglich der richtige Umgang für eine junge, unschuldige Lady vom Land sein! Nicht einmal, wenn diese Lady, wie er aus leidiger Erfahrung wusste, eine scharfe Zunge und einen recht eigenwilligen Kopf hatte!
„Sie haben keine Ahnung, was Sie versäumen, Mylord“, versetzte unterdessen Miss Whitthurst kühl. „Aber wenn Sie sich wirklich nicht für Musik interessieren, dann lässt sich das nicht ändern. Obwohl es mich ein wenig überrascht. Denn Sie haben doch selbst einen Hammerflügel in Ihrem Haus stehen.“
„Wer hat den nicht“, gab Robert stirnrunzelnd zurück. „Das heißt noch lange nicht, dass ich auch darauf spiele. Oder jemanden darauf spielen lassen würde, um genau zu sein.“
„Oh“, entfuhr es Phoebe verblüfft. „Nicht einmal Lady Elaine? Obwohl sie so großartig spielt?“
„Am allerwenigsten Elaine!“, schnappte Robert, sodass Phoebe große Augen bekam.
Verspätet wurde sie sich ihres Fauxpas‘ bewusst, woraufhin sie, leicht errötend hinzusetzte: „Verzeihen Sie, die Bemerkung war taktlos.“
„Vielleicht, aber ehrlich gesagt, würde es mich wundern, wenn Sie plötzlich anfingen, ein Blatt vor den Mund zu nehmen“, näselte er und verzog den Mund.
„Oh, wirklich?“, knirschte Phoebe zwischen zusammengebissenen Zähnen, und der Anflug ihres schlechten Gewissens schwand wieder. „Wenn Sie das so sehen, dann wird es Sie auch bestimmt nicht wundern, wenn wir uns jetzt von Ihnen verabschieden! Denn was mich betrifft, so möchte ich nicht einen einzigen Ton von Beethovens Sonaten verpassen.“
„Ich möchte wirklich nicht schuld sein, Miss Whitthurst, dass Sie etwas verpassen!“, gab Robert, mit einem Seitenblick auf den grinsenden Lüstling, gereizt zurück. Zum Teufel auch, der Bursche fing an, ihm gehörig auf die Nerven zu gehen! Und ihm sträubten sich die Haare bei dem Gedanken, dass Miss Whitthurst plante, den Abend mit diesem Kerl zu verbringen! Obwohl er, bei genauerer Betrachtung, kaum einen Grund vorbringen konnte, weshalb sie es nicht tun sollte. Davon abgesehen, wenn sie unbedingt in ihr Unheil rennen wollte, was ging es ihn an? Letztendlich kannte er sie kaum! Nur weil er bei der Rettungsaktion für Elaine und Miss Whitthursts Bruder Sir Garreth ein paar Tage in ihrer Gesellschaft verbracht hatte – gemeinsam mit seiner Schwester, seiner Tante, seinem Schwager und dem halben Hausstand von Warrington Manor! - hieß das schließlich noch lange nicht, dass er ihr gegenüber irgendeine Verantwortung hätte! Und dennoch ging es ihm gegen den Strich, dass er sie mit jemandem allein lassen sollte, der unverkennbar als Leibgarde für eine unbedarfte Lady völlig ungeeignet war! Aber wenn er sich dem jungen Paar nicht gerade anschließen und an dem Musikabend teilhaben wollte – was ganz entschieden nicht in Frage kam! – dann blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich in aller Höflichkeit zu verabschieden.
Miss Whitthurst kam ihm jedoch zuvor, indem sie ihm einen vernichtenden Blick zuwarf und hochmütig versetzte: „Wenn das so ist, dann werden Sie nichts dagegen haben, uns jetzt zu entschuldigen, Mylord. Anderenfalls kommen Luke und ich doch noch zu spät, und das wäre wirklich ein Jammer.“
„Oh, aber sicher!“, ätzte Robert im arrogantesten Tonfall eines Earls, dessen er fähig war. „Nichts läge mir ferner, als Sie aufhalten zu wollen, Miss Whitthurst!“
„Wie beruhigend! Aber wir sehen uns ja bald wieder. Und, ehrlich gesagt, ich kann es kaum erwarten, so liebenswürdig wie Sie immer sind!“
Verärgert reckte Robert das Kinn vor. „Da wäre ich mir nicht so sicher, Miss Whitthurst. Denn falls Sie auf die Verlobungsfeier auf Warrington Manor anspielen – es ist gut möglich, dass ich nicht komme.“
„Wie bedauerlich“, ließ sich der ehrenwerte Luke Beaumont mit einem gespielten Seufzer vernehmen. „Ich hatte eigentlich gehofft, wir könnten unsere Bekanntschaft auf Warrington Manor vertiefen.“
Robert starrte den aufreizend lächelnden jungen Mann fassungslos an. Was, zum Teufel, hatte Beaumont auf Warrington Manor zu suchen? Soweit Robert sich erinnerte, hatte Anthony ausdrücklich betont, dass es eine Feier im kleinsten Familienkreis sein sollte! Doch er kam nicht dazu, seiner Verwunderung Luft zu machen, denn zu seiner weiteren Konsternation hörte er Miss Whitthurst schnippisch feststellen: „Nun, das mag alles sein, wie es will. Ich für meinen Teil sehe jedenfalls keinen Sinn darin, noch länger in der Kälte zu zittern und Höflichkeiten auszutauschen. – Luke, würdest du mich bitte hineinführen?“
„Sicher, mit Vergnügen“, lachte Beaumont, wobei er Robert, zu dessen Empörung, einen beinahe mitleidigen Blick zuwarf. „Lord Westshire? Sie entschuldigen uns?“
„Gewiss doch. Ich wünsche einen schönen Abend. Miss Whitthurst. Mr. Beaumont.“ Damit nickte er beiden knapp zu, wirbelte auf dem Absatz herum und machte zwei Schritte. Aber die lachende Stimme Beaumonts hinter seinem Rücken zwang ihn, sich noch einmal umzudrehen: „Lord Westshire! – Sie verpassen mehr, als Sie glauben! Aber auch Ihnen einen schönen Abend.“
Robert warf dem arroganten Kerl einen finsteren Blick zu, zuckte die Achseln und marschierte los.