top of page

Devoncourts Brief

Elisabeth Danby saß stumm vor dem riesigen, goldumrandeten Spiegel in ihrem Zimmer. Uninteressiert sah sie zu, wie Melanie, die hübsche, junge Zofe ihrer Tante, ihre goldbraunen Locken zu einer eleganten Frisur hochsteckte. Das Kleid für den heutigen Abend lag schon bereit. In weniger als einer Stunde würde Lord Bellamy erscheinen, um Elisabeth und ihre Tante zum Ball der Beauforts abzuholen, einer jener zahlreichen privaten Festlichkeiten, die während der Londoner Saison täglich irgendwo stattfanden.
Bei dem Gedanken an den heutigen Abend verdrehte Elisabeth angewidert die Augen. Im Allgemeinen funkelten ihre großen, grünblauen Augen vor Lebenslust. Heute jedoch schimmerten sie dunkel vor Ärger und spiegelten Elisabeths Gemütszustand so deutlich wider, dass Melanie tadelnd ihren blonden Kopf schüttelte.
„Runzeln Sie nicht so die Stirn, Miss, das gibt nur Falten. Und außerdem wünscht Lady Worthington, dass Sie lächeln und fröhlich sind, wenn Sie ausgehen.“
Elisabeth verzog das Gesicht zu einer Grimasse und seufzte. „Ich wäre bedeutend fröhlicher, wenn Tante Heather mich nicht seit über einem Monat von einem Ball zum anderen schicken würde!“
„Wie können Sie so etwas sagen!“, schimpfte Melanie. „Sie wissen gar nicht, wie gut Sie es haben! Ihre Tante will doch nur Ihr Bestes! Und was gibt es Schöneres außer Tanzen! Wenn man vom Küssen einmal absieht.“
Elisabeth lachte, trotz ihres Ärgers. „Ach, Melanie, du weißt, wie sehr ich es liebe, zu tanzen! Aber seit dieser schreckliche Lord Bellamy mir den Hof macht, ist jede eigentlich vergnügliche Festivität nur noch eine lästige Pflicht! Und Tante Heather unterstützt diese schleimige Kröte auch noch auf jede nur erdenkliche Weise!“
Melanie blinzelte verblüfft. „Ihre Tante will doch nur, dass Sie eine gute Partie machen! Und Lord Bellamy ist reich! Und außerdem sieht er doch gar nicht so schlecht aus!“
„Ach, Melanie“, seufzte Elisabeth und lehnte sich kopfschüttelnd zurück. „Vor zwei Jahren war alles ganz anders. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen.“
„Können Sie aber nicht“, stellte Melanie pragmatisch fest. „Also hören Sie auf, Trübsal zu blasen. Ihr Gesicht passt sonst gar nicht zu diesem traumhaften Kleid aus elfenbeinfarbener Seide und Spitze.“
Elisabeth grunzte verächtlich. „Umso besser!“
Melanie verdrehte die Augen und ersparte sich einen Widerspruch, sodass Elisabeth in Ruhe ihren Gedanken nachhängen konnte, während Melanie sich weiter an ihren Haaren zu schaffen machte.
Niedergeschmettert dachte sie darüber nach, um wie vieles anders alles tatsächlich gewesen war, als sie vor zwei Jahren als Debütantin ihre ersten Bälle während der Londoner Saison besucht hatte. Damals hatten ihre Eltern sie in die Stadt begleitet. Sorglos und heiter und unbeschwert wie der Frühling war ihr Leben in jenen glücklichen Tagen gewesen. Genau wie heute war ein Vergnügen dem anderen gefolgt. Elisabeth hatte getanzt und gelacht und jede Menge Verehrer gehabt. Aber niemals hatten ihre Eltern Druck auf sie ausgeübt, einen von ihnen zu erhören, und als die Saison sich ihrem Ende näherte, hatte Elisabeth zwar viele Freundschaften geschlossen, jedoch keinem der jungen Männer, die sie umwarben, ihr Herz geschenkt. In völliger Übereinstimmung mit ihren Eltern war sie auf den Familiensitz Fairylaine Manor in Sussex zurückgekehrt.
Immer noch wurde Elisabeth das Herz schwer, wenn sie an ihre fröhliche Mutter und ihren wunderbaren Vater dachte und wie sehr diese beiden warmherzigen Menschen einander geliebt hatten. Elisabeth wollte die gleiche leidenschaftliche Liebe, die gleiche Bewunderung und Zärtlichkeit für einen Mann empfinden wie ihre Mutter für ihren Vater, und sie wollte auch ebenso von Herzen geliebt werden. Ihre Eltern hatten sie in diesem Wunsch stets bestärkt.
Dann aber starben beide wenige Wochen nach ihrer Rückkehr nach Fairylaines bei einem Kutschunfall. Noch viel zu geschockt von dem plötzlichen Verlust dieser geliebten Menschen, fügte sich Elisabeth anfänglich willenlos den Anordnungen und Wünschen ihrer Verwandten.
Während des Trauerjahres, das dem Tode ihrer Eltern folgte, wurde sie zunächst der Obhut ihres Onkels Roderick übergeben, eines Bruders ihrer Mutter, der als Arzt in den ländlichen Regionen Hampshires tätig war. Elisabeths älterer Halbbruder Jason war der Meinung, dass ihr Interesse für die medizinische Arbeit ihres Onkels zwar nicht gerade angemessen für eine junge Dame war, Elisabeth aber helfen würde, über den Tod ihrer Eltern hinwegzukommen.
So war es auch. Wenn Elisabeth ihren Onkel bei der Arbeit beobachtete, war sie fasziniert von seinem Wissen. Sie begann, in seinen medizinischen Büchern zu lesen, merkte sich, wie er welche Krankheit behandelte, und ging ihm bei der Behandlung seiner Patienten zur Hand. Schon bald ließ ihr Onkel sie einige Arbeiten, wie das Wechseln von Verbänden und die Versorgung kleinerer Wunden, selbständig erledigen. Elisabeth genoss es, sich auf diese Weise nützlich zu machen, und konnte dabei sogar hin und wieder den Schmerz über den Verlust ihrer Eltern vergessen.
Unterdessen kam Elisabeths Tante Heather, Lady Worthington, die ältere Schwester ihrer Mutter, dahinter, was Roderick seiner Nichte gestattete. Lady Worthingtons Anstandsgefühl war zutiefst erschüttert. Eine junge Dame der Gesellschaft, die sich als gewöhnliche Krankenschwester und Hebamme betätigte und die einfachsten Pächter und Landarbeiter pflegte - nein, war das empörend! Elisabeth blieb nichts anderes übrig, als ihre Koffer zu packen.
Jedoch hatte sie den Tod ihrer Eltern noch längst nicht verwunden. Der Vorstellung, zu ihrer kinderlosen Tante und ihrem Onkel nach London zu ziehen und sich, wie ihre Tante es wünschte, erneut dem Heiratsmarkt zu präsentieren, konnte sie nicht das Geringste abgewinnen. Sie sehnte sich nach Fairylaine Manor, ihrem Zuhause, was Lady Worthington zumindest zum Teil nachvollziehen konnte. Statt Elisabeth also selbst aufzunehmen, brachte sie sie für die nächsten Monate bei ihrem Schwager Sir Harry Danby unter, wo sie sie gut aufgehoben hoffte.
Elisabeth, die sich an das abwechslungsreiche Leben bei ihrem Onkel Roderick gewöhnt hatte, verbrachte bei Sir Harry eine eintönige und ruhige Zeit. Immerhin konnte sie ihren Onkel dazu bewegen, zumindest einige Wochen im Sommer und ein paar Wochenenden im Herbst in ihrem Elternhaus zu verbringen, das er nach dem Tod von Elisabeths Vater als dessen jüngerer Bruder geerbt hatte. Für den Großteil des Jahres jedoch zog Sir Harry sein eigenes Anwesen dem Familiensitz der Danbys vor. Insgeheim konnte Elisabeth das sogar verstehen, denn Devoncourt Hall war wirklich ein prächtiger alter Landsitz, wesentlich größer und würdevoller als das Gut ihrer Eltern. Sir Harry hatte es einst vom König verliehen bekommen, als Lohn für geleistete Dienste. Dass es sich dabei um eine Zeugenaussage vor Gericht handelte, erfuhr Elisabeth es wesentlich später, denn zum Zeitpunkt des Prozesses war sie noch ein Kind gewesen. Aber sie erinnerte sich, dass es damals viele Gerüchte und Getuschel gegeben hatte. Sie war stolz, dass gerade ihr Onkel Harry, den die meisten für extrem einfältig und dumm hielten, geholfen hatte, einen Hochverräter zur Strecke zu bringen.
Darüber hinaus brachte sie ihrem Onkel jedoch keine große Zuneigung entgegen, und auch sein Verhalten ihr gegenüber war eher von kühler Zurückhaltung als von Herzlichkeit geprägt. Sie hatte bis zum Tode ihrer Eltern kaum Kontakt zu Sir Harry gehabt und kannte ihn nicht besonders gut. Dennoch sah sie keinen Grund, die Einschätzung ihrer Tante, dass er unter seiner abweisenden Hülle ein warmherziges Wesen verbarg, anzuzweifeln. Eher fürchtete sie, dass Sir Harry ihr gegenüber so reserviert war, weil er glaubte, sie würde Jasons Abneigung gegen ihn teilen. Ihr älterer Halbbruder nämlich hatte oft genug durchblicken lassen, dass er nicht viel für Sir Harry übrig hatte.
Wie auch immer, kurz nachdem Elisabeth zwanzig Jahre alt geworden war, hatte Lady Worthington beschlossen, dass  Elisabeth nun wirklich dringend unter die Haube gehörte. Die Trauerzeit war vorüber, die nächste Saison stand bevor, und Elisabeths Wiedereintritt in das gesellschaftliche Leben war längst überfällig. Und auch wenn es Unannehmlichkeiten bedeutete, ein junges Mädchen unter die Haube bringen zu müssen, ließ Lady Worthington keinen weiteren Widerspruch mehr gelten und holte Elisabeth zu sich nach London, wo sie sie in die besten Kreise einführte. Als Gegenleistung erwartete sie von ihrer Nichte, sich schnellstmöglich zu verheiraten. Lord Bellamy, Viscount Fromton, kam da gerade recht, war er doch aus bester Familie und vermögend.
Elisabeth war sich des dringenden Wunsches ihrer Tante, sie bald wieder los zu sein, durchaus bewusst, doch war sie keineswegs bereit, sich deswegen in eine Ehe manövrieren zu lassen, die sie nicht wollte. Sie gestand Lady Worthington einen gewissen guten Willen zu, dass sie sie durch eine reiche Heirat gut versorgt wissen wollte, weswegen sie sich bemühte, sie nicht über Gebühr zu verärgern. Dennoch war sie fest entschlossen, ihre Tante nicht über ihren Kopf hinweg entscheiden zu lassen. Sie war inzwischen oft genug mit Lord Bellamy ausgegangen, um zu wissen, dass er für sie als Ehemann nicht in Frage kam. Gewiss, er war reich und sah sogar recht passabel aus. Dass er sich aber, sobald sie allein waren, nicht im Geringsten an gesellschaftliche Regeln gebunden zu fühlen schien und ihr feuchte, schmatzende Küsse aufzuzwingen versuchte, machte ihn nicht sympathischer als der zynische Zug um seinen Mund. Wenn der heutige Abend vorbei wäre, würde sie Lady Worthington endgültig klarmachen, dass sie Lord Bellamy nicht erhören würde, koste es, was es wolle.
Natürlich wäre es bedeutend einfacher, die Pläne ihrer Tante zu durchkreuzen, wenn sie nicht völlig auf sich allein gestellt wäre. Jason wäre sicherlich eine Hilfe, wäre er zu Hause, doch ihr Halbbruder war Marineoffizier im Dienste seiner Majestät und kämpfte zurzeit gegen die französische Flotte. Wie immer, wenn sie an ihren innig geliebten Bruder dachte, überkam Elisabeth ein Anflug von Wehmut. Mit Jason verband sie die glücklichen Tage ihrer Kindheit. Er war nur drei Jahre älter als sie und entstammte der ersten Ehe ihrer Mutter. Früh verwitwet, hatte Mary Farrell ihren Jugendfreund Archibald Danby geheiratet, und Jason war von ihm aufgezogen worden wie ein eigener Sohn. Elisabeth vergötterte ihren älteren Bruder, der immer voller Lachen gewesen war und so manchen gutmütigen Streich mit ihr zusammen ausgeheckt hatte. Immer wenn sie niedergeschlagen war, so wie jetzt, vermisste sie seine Fröhlichkeit besonders.
„Sie sehen so hübsch aus, Miss Elisabeth“, unterbrach Melanie ihre Gedanken. „Ihre Haare glänzen beinahe mehr als die Perlen, die ich eingewobenen habe! Und dazu noch dieses herrliche Kleid! Kommen Sie, Miss, ich helfe Ihnen beim Anziehen. Oh, Lord Bellamy wird Augen machen!“
Elisabeth stöhnte entnervt auf, erhob sich aber, um sich ankleiden zu lassen.
Als sie fünf Minuten später ihr Zimmer verließ, versuchte sie, eine nicht gar so missmutige Miene aufzusetzen. Melanie hatte ja recht, es half nichts, wenn sie Trübsal blies. Vielleicht würde sich ihre Stimmung bessern, wenn sie bis zur Ankunft Lord Bellamys ihrem Onkel und seinen Bekannten unten im Salon Gesellschaft leistete. Allemal war es unterhaltsamer, sich die manchmal hitzigen Debatten der älteren, distinguierten Herren anzuhören, als Lady Worthington Gelegenheit zu geben, ihr die nötigten Verhaltensmaßregeln für den heutigen Ball zu predigen.
Wie es sich gehörte, erhoben sich die Herren bei Elisabeths Eintritt, aber Elisabeth bat sie rasch, wieder Platz zu nehmen. Sie hatte nicht vor, die Runde zu stören, und zog sich nach einigen freundlichen Worten in den hinteren Teil des Salons zurück, wo sie ein herumliegendes Modemagazin in die Hand nahm und sich den Anschein gab, völlig darin versunken zu sein.
Es dauerte nicht lange, da war die Herrenrunde wieder genauso ins Gespräch vertieft wie vor Elisabeths Eintritt. Sie hörte nur mit halbem Ohr hin, denn wie üblich drehte sich alles um Politik. Jedoch war es nicht das Thema, das Elisabeth langweilte, sondern dass sie genau vorhersagen konnte, was jeder einzelne Gesprächsteilnehmer im nächsten Moment sagen würde. Es war nicht ihr erster Abend, den sie als stumme Zuhörerin im Salon verbrachte, und inzwischen kannte sie die Ansichten jedes einzelnen von Sir Henrys Besuchern über jedes nur erdenkliche Thema. Was sie allerdings immer wieder verblüffte, war die Bravour, mit der jeder seine Meinung solcherweise zum Besten gab, als handele es sich um eine völlig neue Erkenntnis. Noch mehr erstaunte sie, dass die anderen Herren immer wieder so reagierten, als hätten sie die soeben geäußerte Meinung noch nie zuvor gehört. Einzig Lord Farnsworth versuchte manchmal, dem Gespräch eine neue Richtung zu geben, war dabei aber meistens nicht sonderlich erfolgreich, da seine Gesprächspartner es zu genießen schienen, sich immer wieder im Kreis zu drehen.
Elisabeth mochte Lord Farnsworth eigentlich nicht besonders, denn er wirkte zynisch und hart. Dennoch war sie inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass er der mit Abstand Intelligenteste der Herrenrunde war. Er war es auch, der in diesem Augenblick das Thema wechselte, während er sich mit einem Glas Cognac in der Hand an den Kaminsims lehnte.
„Was sagt ihr dazu, dass man Hardy den Prozess machen will?“, fragte er mit einem gelangweilten Ausdruck, und Sir Henry ging sofort darauf ein.
„Du meinst den Schuster Hardy und diese anderen politischen Wirrköpfe? Nun ja, ich halte es für übertrieben, schließlich sind wir ein freies Land. Natürlich sind ihre Ansichten  absoluter Humbug. Aber das ist ohnehin jedem klar, auch ohne dass man ihnen den Prozess macht.“
„Wie liberal, mein Guter“, spottete Lord Farnsworth. „Meinst du etwa nicht, dass man Freigeister wie Hardy in ihre Schranken weisen sollte?“
„Ganz genau“, nickte Lord Winterbottom an Sir Henrys Stelle, dem er das Wort abschnitt. „Gott sei Dank gibt es nicht viele, die Hardys Ansichten teilen.“
„Wenn man von Fox und seinen Günstlingen Lord Holland und Charles Grey absieht“, gab Lord Farnsworth zu bedenken. „Fox Rede vor dem Parlament neulich hättet ihr hören sollen! Wenn das kein Reformgeist ist!“
„Ach Fox, dieser ewige Oppositionelle“, schnaufte Sir Henry. „Was soll der schon erreichen.“
Lord Farnsworth holte in aller Ruhe seine Schnupftabakdose aus seiner Westentasche und zog genüsslich eine Prise in die Nase, ehe er auf die Bemerkung einging. „Nicht viel, sicherlich. Bisher hat er jedenfalls nicht viel Unterstützung gefunden.“
„Ganz genau“, nickte Lord Winterbottom. „Und wer würde auch schon einen Mann unterstützen wollen, der so absurde Vorstellungen hat. Reformen, mein Gott, wenn ich das Wort schon höre. Wir haben in Frankreich gesehen, was dabei herausgekommen ist - nichts als Gewalt und Terror. Und Redefreiheit, du lieber Himmel! Glauben die Leute, die so etwas verlangen, denn allen Ernstes, dass das gemeine Volk sich vernünftig über politische Themen auslassen kann?“
Lord Farnsworth lachte gehässig. „Du bist zu engstirnig, mein guter Winterbottom, und das weißt du selbst ganz genau. Natürlich kann das Volk denken und auch reden. Aber wenn wir das zulassen, verlieren wir unsere Privilegien, und wer will das schon riskieren?“
Sir Henry warf seinem früheren Studienfreund einen warnenden Blick zu, der Lord Farnsworth lediglich veranlasste, spöttisch zu grinsen. Dann wechselte er aber doch das Thema: „Übrigens, da wir von Verlierern reden, habt ihr schon gehört, dass der junge Sheffield in London ist?“
„Sheffield? Sheffield … der Name kommt mir bekannt vor“, murmelte Sir Henry.
„Natürlich kommt er dir bekannt vor, mein Guter“, erklärte Lord Farnsworth nachsichtig. „Sicher erinnerst du dich an den Earl of Devoncourt, den man vor ungefähr zwölf Jahren des Hochverrats beschuldigt hat. Sheffield ist sein Sohn.“
„Ja, ja natürlich, du hast recht. Jetzt erinnere ich mich. Beschuldigt, verurteilt und hingerichtet. Gab einen ganz schönen Wirbel damals. Immerhin trug er einen der angesehensten Titel und stand bei Hofe hoch im Kurs, wenn ich mich recht erinnere.“ Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Aber was macht Sheffield dann in London? Sind nicht damals Devoncourts Frau und Söhne ins Exil verbannt worden?“
„Sie verließen das Land freiwillig“, mischte sich Lord Winterbottom wieder in das Gespräch. „Lady Mary Devoncourt entstammte einem alten deutschen Adelsgeschlecht und zog mit ihren Söhnen gleich nach der Hinrichtung ihres Mannes irgendwo in die Nähe von Hamburg. Und unser König, der sie hier in England nicht mehr empfing, ließ ihr als Kurfürst von Hannover über seine deutschen Mittelsmänner manche Gunst zuteil werden. Es heißt, sie stand im Kurfürstentum in höchstem Ansehen und verkehrte sogar am kurfürstlichen Hof.“
„Stand? Ist sie denn tot?“, erkundigte sich Sir Henry.
Lord Winterbottom nickte. „Ich glaube gehört zu haben, sie sei letztes Jahr gestorben. Und nun kehrt also ihr ältester  Sohn nach England zurück. Ich habe neulich schon so ein Gerücht gehört. Dann ist es also wahr?“
Lord Farnsworth nickte und begleitete seine Worte mit einem verächtlichen Lachen. „Ja. Wer weiß, vielleicht will er das väterliche Erbe zurückfordern. Immerhin hat Devoncourt damals stets seine Unschuld beteuert und sein Sohn wütend Rache für das angebliche Unrecht geschworen, ehe er mit seiner Mutter und seinem Bruder das Land verließ.“
„Glaubst du wirklich, dass Devoncourt unschuldig war?“, fragte Lord Winterbottom überrascht, was ihm ein mitleidiges Lächeln des wortführenden Lord Farnsworth einbrachte.
„Warum sollte ich ihn heute für unschuldig halten, wenn ich es damals nicht tat?“
„Nun“, wandte Sir Henry ein, „es gab damals immerhin viele Stimmen, die daran zweifelten, dass er tatsächlich fürs Ausland spionierte und Viscount Lowsdale ermordete, als dieser ihm auf die Schliche kam.“
„Stimmt“, nickte Lord Farnsworth. „Selbst unser guter König gehörte zu den Zweiflern, genau wie der Thronprinz. Aber nach Devoncourts Hinrichtung sickerten allem Anschein nach keine geheimen Informationen mehr vom Hofe in die Öffentlichkeit oder gar ins feindliche Ausland, worüber  auch die Krone und Whitehall sehr erleichtert waren. Und,  mein Guter“, setze er voller Hohn hinzu, „vergiss nicht, dass es immerhin die Aussage eines Verwandten von dir war, die maßgeblich zu Devoncourts Verhaftung beitrug. Obwohl manche ja Zweifel an seinem Verstand haben.“
„Harry gehört zur Familie meiner Frau“, erklärte Sir Henry unwirsch, dem es, wie immer, peinlich war, auf seinen einfältigen Verwandten angesprochen zu werden. „Und auch das nur durch die Heirat seines Bruders mit meiner verstorbenen Schwägerin. Und wenn man es genau nimmt, -“
„Ja, ja, schon gut“, lachte Lord Farnsworth. „Immerhin ist er ja für seine Aussage vor Gericht damals gut entlohnt worden, soweit ich mich erinnere. Hat er nicht Devoncourts Güter bekommen?“
„Ja, ganz recht“, nickte Sir Henry. „König George übereignete ihm die Besitzungen damals als Dank für seine Dienste. Womit Harry mehr Glück als Verstand hatte, denn die Aussage vor Gericht war wohl das einzig Vernünftige, was er je zustande gebracht hat.“
Die Männer lachten, aber Sir Henry war inzwischen nachdenklich geworden. „Um auf Sheffield zurückzukommen: Glaubst du wirklich, dass er es fertigbringen würde, den  Besitz zurückzufordern?“
„Um das zu tun, müsste er schon die Unschuld seines Vaters beweisen“, bemerkte Lord Winterbottom gelangweilt. „Und wie wollte er das schon anstellen.“
„Ich weiß es nicht“, gab Sir Henry zu. „Aber wenn er auch nur halb so ein Mann ist wie sein Vater, wird er es zumindest versuchen, falls er wirklich von der Unschuld seines Vaters überzeugt ist. Devoncourt hat es stets verstanden, zu erreichen, was er sich einmal vorgenommen hatte. Und wenn sein Sohn in seine Fußstapfen tritt -“
„Landet er im Tower und wird einen Kopf kürzer“, fiel Lord Farnsworth ins Wort. „Ich weiß nicht, warum aus deiner Stimme so viel Bewunderung klingt, Henry, schließlich war der Mann ein verurteilter Spion und Mörder.“
„Ja, du hast recht. Aber wenn ich anfange, darüber nachzudenken, mache ich mir Sorgen um Harry. Er ist selbst viel zu naiv, um sich wehren zu können, falls Sheffield auf irgendeine hinterhältige Art versucht, ihm die Besitzungen wieder abzujagen. Ich frage mich daher, was Sheffield für ein Mensch ist und was er hier will. Er hätte doch drüben bleiben können, im Kurfürstentum.“ Sir Henry seufze. „Du kanntest ihn doch damals, Gregor. Was für eine Art Mann ist Sheffield?“
„Ach du lieber Himmel“, lachte Lord Farnsworth. „Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er ein halbwüchsiger Junge! Ich habe nicht den geringsten Schimmer, was für ein Mann er geworden ist.
„Aber dein Bruder kannte die Familie doch gut. Waren er und Devoncourt nicht befreundet?“
„Ja, eine Jugendfreundschaft“, bestätigte Lord Farnsworth unwirsch. „Sie kannten sich von der Universität. Aber nach Stuarts Rückkehr aus den amerikanischen Kolonien haben sie die Freundschaft, soweit mir bekannt ist, nicht wieder aufgefrischt.“
Lord Winterbottom kratzte sich nachdenklich an der Stirn. „Ich kenne ihn nicht persönlich, aber nach allem, was man so hört, scheint Sheffield recht zielstrebig zu sein. Und gilt als gefährlicher Gegner.“
„Duelle?“, fragte Sir Henry.
„Keine Ahnung. Aber … wenn ich darüber nachdenke, ich meine gehört zu haben, dass er auf kurfürstlicher Seite als Offizier gegen die Franzosen gekämpft und sich dort einen gewissen Ruf erworben hat. Wie auch immer, falls er es sich tatsächlich in den Kopf gesetzt haben sollte, den Besitz seiner Familie zurückzubekommen, wird dein Schwager sich wohl auf einen harten Kampf einstellen müssen.“
„Gütiger Himmel“, stöhnte Sir Henry. „Harry hängt wie ein Kind an den Gütern, die der König ihm übereignet hat. Aber kämpfen kann er nicht. Wenn dieser Sheffield ihn hereinlegen will, wird er ein leichtes Spiel haben.“
„Nun, dann solltest du alles tun, um deinen Verwandten vor Sheffield zu schützen“, bemerkte Gregor Farnsworth trocken. „Sonst wird Harry Danby für ihn ein leichtes Fressen.“
Sir Henry fasste sich mit zittriger Hand an die Stirn. „Ich fürchte, du hast recht. Wenn ich nur wüsste, wie ich das anstellen soll.“
Lord Winterbottom erhob sich und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. „Ach komm, alter Junge, so schlimm  wird‘s schon nicht werden. Wir kennen doch Gregor. Er übertreibt immer. Sicherlich hat Sheffield nicht das geringste Interesse an seinem alten Besitz. Er hat jetzt so lange im Kurfürstentum gelebt, dass er doch selbst so gut wie ein Hannoveraner ist.“
„Ja, ja vermutlich hast du recht“, nickte Sir Henry erleichtert.
Lord Farnsworth rang sich ein gequältes Lächeln ab, und Elisabeth in ihrer Ecke runzelte die Stirn. Wenn irgendjemand es darauf anlegte, ihrem Onkel etwas anzutun, hätte er gewiss leichtes Spiel, gutgläubig wie Sir Harry war! Sheffield - sie beschloss, sich den Namen gut zu merken, nur für den Fall, dass sie diesem finsteren Herrn  einmal begegnen sollte. Sie hatte bereits eine lebhafte Vorstellung davon, wie er aussehen musste: vermutlich klein, hager und mit einer spitzen Nase. Vielleicht trug er auch einen dunklen Schnurrbart, wie die Schurken im Theater. Aber vor allen Dingen leuchtete ihm die Bosheit gewiss schon aus dem Gesicht. Und wenn schon sein Vater als Mörder und Verräter hingerichtet worden war, lag die verbrecherische Ader vermutlich in der Familie. Onkel Harry würde sich vor dem Mann vorsehen müssen!
Augenblicke später lachte sie jedoch beinahe laut auf angesichts des Bildes, das ihre Phantasie da gemalt hatte. Es war einfach albern, sich Sheffield wie einen Schurken aus dem Theater vorzustellen! Vielleicht war dieser Sheffield nicht dunkelhaarig, sondern blond, nicht hager, sondern dick. Aber wie auch immer er aussehen mochte, er stellte eine Bedrohung dar. Dass er aus anderen als Rachegründen zurückgekehrt war, war zwar trotz aller Gerüchte möglich, aber die bloße Vorstellung, dass er Böses vorhaben könnte, reichte, dass Elisabeth zornig auf diesen Mann war. Ob er Übles im Schilde führte oder nicht, sein plötzliches Auftauchen würde ihren Onkel beunruhigen. Das allein schon war Grund genug, wütend auf ihn zu sein.
Unvermittelt seufzte Elisabeth. Vermutlich waren ihre Überlegungen kindisch und voreilig. Sie kannte Sheffield noch nicht einmal, und für ihren Onkel hatte sie eigentlich nicht viel übrig. Es gab also überhaupt keinen Grund, sich aufzuregen. Und dennoch – sollte sie diesem Ungeheuer je begegnen, würde sie ihn sehr genau unter die Lupe nehmen!

Etwa eine Stunde später stiegen Elisabeth und Lady Worthington an Lord Bellamys Arm die Stufen zu dem imponierenden Stadthaus der Beauforts hinauf. Augenblicke später waren sie im überfüllten Ballsaal.
Kristalllüster beleuchteten die Tanzfläche, auf der bereits zahlreiche Paare in festlichen Roben zu den Klängen eines lebhaften Menuetts tanzten. Andere Gäste standen am Rand und schauten fröhlich plaudernd zu. Einige ältere Herrschaften hatten es sich auf an der Wand bereitgestellten Stühlen bequem gemacht. Einige von ihnen unterhielten sich lebhaft, andere blickten mit einer gewissen Sehnsucht auf das bunte Treiben auf dem Parkett. Fröhliches Lachen und ein buntes Stimmengewirr drangen durch die Musik des Orchesters, das mit Elan und Perfektion spielte. Die Musiker gehörten zu den besten ihres Faches und waren handverlesen, denn Lady Beaufort hatte keine Mühen und Kosten gescheut, um ihre Gäste gut zu unterhalten. Kein Wunder also, dass der Großteil ihrer Gäste bester Stimmung war.
Elisabeth hingegen betrat den Ballsaal mit eher gemischten Gefühlen. Ihr Zorn auf den ihr unbekannten Sheffield war rasch verblasst angesichts des angewiderten Ekels, den sie für den eleganten Gecken an ihrer Seite empfand. Während der nur knapp zehnminütigen Kutschfahrt hatte dieses Individuum nicht eine Gelegenheit ausgelassen, sie mit seinen umtriebigen Händen zu berühren, sobald Lady Worthingtons Aufmerksamkeit auch nur eine winzige Sekunde lang abgelenkt war. Und abgelenkt war Lady Worthington oft, denn sie wünschte nichts so sehr wie Elisabeths Verbindung mit diesem schwerreichen Mann.
Elisabeth indessen schüttelte es bei dem Gedanken, auch nur noch eine einzige Berührung ertragen zu müssen. Sie stand zwei Tänze mit Lord Bellamy durch, dann fand sie sich zu ihrer Erleichterung von einer Schar Verehrer umringt, denen sie freimütig Tänze gewährte, solange sie das davor bewahrte, ein weiteres Mal mit Lord Bellamy tanzen zu müssen.
Nach einer Weile jedoch hatte sie mit jedem der jungen Männer einmal getanzt. Sie hatte nicht den Wunsch, einen von ihnen unnütz dadurch zu ermutigen, dass sie sich ein zweites Mal von ihm auf die Tanzfläche führen ließ. Noch unschlüssig, ob sie sich ans Buffet geleiten lassen oder sich lieber allein auf die Terrasse zurückziehen sollte, sah sie plötzlich von weitem Lord Bellamy auf sich zusteuern. In aller Hast bat sie die sie umringenden Herren, sie kurz zu  entschuldigen. Für den Augenblick schien ihr die überfüllte Eingangshalle, wo ständig neue Gäste kamen, der beste Ort, um vor Lord Bellamys unerwünschter Aufmerksamkeit sicher zu sein.
An der Tür, die aus dem Ballsaal hinausführte, sah sie sich noch einmal kurz um und stellte erschrocken fest, dass sich Lord Bellamys Abstand zu ihr deutlich verringert hatte und er einen verärgerten Ausdruck zur Schau trug.
Sie wirbelte hastig herum - und stieß unvermittelt mit  einer harten Männerbrust zusammen. Zu jeder anderen Zeit wäre ihr solch ein Missgeschick peinlich gewesen. Im  Augenblick aber scherte sie sich keinen Deut darum, ob sich ihr Verhalten schickte oder nicht. Wenn sie Bellamy entgehen wollte, war Eile geboten. So murmelte sie nur eine hastige Entschuldigung und versuchte, sich rasch an dem Mann vorbei zu drängen. Zu ihrem Ärger stellte sie jedoch fest, dass das nicht so einfach möglich war. Denn als sie sich von dem Mann fortzubewegen versuchte, hielt dieser ihren Arm fest. Das war zumindest das, was sie während der ersten zwei Sekunden glaubte. Sie erkannte ihren Irrtum jedoch sofort, als sie sich umwandte und sah, dass die schlanken, sehnigen Finger ihres Gegenübers keineswegs unziemlich nach ihr griffen, sondern sich stattdessen vorsichtig bemühten, Elisabeths weiten Ärmelvolant von einem silbernen Knopf zu lösen, an dem der zarte Stoff hängengeblieben war.
„Wie es aussieht“, bemerkte die leicht spöttische, tiefe Stimme dieses ärgerlichen Hindernisses, „sind Sie von mir gefesselt.“
Empört, dass der Mann sich offensichtlich über ihre absurde Situation amüsierte, blickte sie nun zum ersten Mal zu seinem Gesicht empor, wobei sie tief Atem holte, um diesem ungehobelten Klotz gehörig die Meinung zu sagen. Mit zornig funkelnden Augen öffnete sie den Mund - um ihn dann doch abrupt wieder zu schließen, ohne auch nur einen einzigen Ton herausgebracht zu haben.
Von einer Sekunde auf die andere fühlte sie sich hilflos  und verwirrt, denn auf sie herab lächelte aus einer beeindruckenden Höhe von bestimmt Einmeterfünfundachtzig das attraktivste Männergesicht, das sie je gesehen hatte. Dunkle, fast schwarze Augen musterten sie unter feingeschwungenen Brauen so eindringlich von oben bis unten, dass sie fast das Gefühl hatte, ausgezogen zu werden. Das offensichtliche Vergnügen, das sie in dem schmalen Gesicht mit einem energischen Kinn, einer geraden, wohlgeformten Nase und zu einem Lächeln verzogenen Lippen erblickte, brachte sie derart aus der Fassung, dass sie für einen Augenblick sogar beinahe Lord Bellamy vergaß - jedoch wirklich nur beinahe, denn Sekundenbruchteile später bemerkte sie, wie er verärgert versuchte, sich an den tanzenden Paaren, die ihm den Weg versperrten, vorbei zu drängen, um zu ihr zu gelangen.
Während sie nervös zusah, wie der unbekannte junge Mann sich weiter abmühte, ihren Ärmel freizubekommen, gelang es ihr endlich, halbwegs ihre sieben Sinne zu sammeln und ein paar Worte hervorvorzubringen: „Ich … es tut mir leid. Aber ich habe es wirklich sehr eilig! Wenn Sie bitte den Ärmel etwas schneller lösen könnten …“
Sie blinzelte, als der Fremde, über ihren drängenden Ton verblüfft, die Augenbrauen zusammenzog. Plötzlich hatte er den Stoff gelöst, und sie war wieder frei, aber noch ehe sie dessen gewahr war, tauchte Lord Bellamy neben ihnen auf.  Besitzergreifend langte er nach Elisabeths Arm, den diese  ihm vergeblich zu entziehen versuchte.
„Elisabeth, Sie hartherziges Mädchen! Was rennen Sie denn so schnell davon, dass ich Sie kaum erwische! Sie müssen mir unbedingt den nächsten Tanz gewähren, liebes Kind.“
Elisabeth straffte den Rücken und richtete sich sehr gerade auf. „Lord Bellamy! Lassen Sie mich sofort los! Ich - “
„Keine Widerrede, meine Liebe“, unterbrach Lord Bellamy sie ungerührt, ohne auf ihre Proteste oder den missbilligenden  Blick des Fremden zu achten. „Ihr Onkel hat mir versprochen, dass ich Ihnen den Hof machen darf, und ich bin fest entschlossen, genau das zu tun! Sich ein wenig zu zieren, steht einem wohlerzogenen Mädchen gut zu Gesicht, aber Sie dürfen es damit wirklich nicht übertreiben, meine Teuerste!“
Während Elisabeth krampfhaft nach einer passenden Erwiderung suchte, begegnete ihr Blick dem fragenden Blick des Fremden. Diesem entging nicht die Andeutung von Widerwillen auf ihrem schönen Gesicht, und so entschied er die Sache. Mit einem ebenso kühlen wie höflichen Lächeln wandte er sich an Lord Bellamy:
„Es tut mir leid, Mylord, aber ich fürchte, die Dame hat diesen Tanz bereits mir versprochen.“
„Das kann ich mir kaum vorstellen!“, schnaubte Lord Bellamy verächtlich.
„Und doch ist es so“, log Elisabeth, ohne irgendeinen Anflug eines schlechten Gewissens Lord Bellamy gegenüber, aber mit einem dankbaren Lächeln für den galanten Fremden.
„Sie müssen sich irren, Miss Danby!“, beharrte Lord Bellamy mit zornig zusammengekniffenen Augen. „Zeigen Sie mir doch bitte einmal Ihre Tanzkarte!“
„Was fällt Ihnen ein, Mylord!“, empörte Elisabeth sich. „Zweifeln Sie etwa an meinem Wort?“
„Sicherlich würde niemand, der sich Gentleman nennt, am Wort einer Lady zweifeln“, bemerkte der Fremde mit zuckenden Mundwinkeln. Ohne sich um Lord Bellamys düpierten Gesichtsausdruck zu kümmern, verbeugte er sich vor Elisabeth. „Darf ich bitten, Madam?“
Sie nickte und dankte ihm mit einem so strahlenden Lächeln, dass ein warmes Leuchten in seine Augen trat. Das mühsam unterdrückte Grinsen, das um seine feingeschwungenen Lippen spielte, als er Lord Bellamy knapp zunickte, während er Elisabeth auf die Tanzfläche führte, ließ Elisabeth beinahe laut auflachen. Sie fühlte sich so erleichtert, obwohl sie wusste, dass sie nur einen vorübergehenden Sieg errungen hatte. Aber jede Minute, die sie nicht mit Lord Bellamy verbringen musste, war Gold wert!
Sekunden später verschwendete sie keinen Gedanken mehr an Lord Bellamy, denn die Art und Weise, wie ihr Gegenüber sie über die Tanzfläche führte, war atemberaubend. Weniger wegen der Schritte, wie ihr sehr wohl bewusst war, sondern allein durch die ungewohnte körperliche Nähe dieses ihr völlig fremden Mannes. Die Musiker spielten einen ländlichen Tanz, der ungewöhnlich viel Körperkontakt erforderte. Nur eine so selbstbewusste und ältere Dame wie die Gastgeberin des heutigen Balles konnte es wagen, einen so ungehörigen Tanz spielen zu lassen. Elisabeth hatte ihn noch niemals getanzt, sie kannte noch nicht einmal die Schritte, aber der Fremde führte sie mit einer Leichtigkeit, dass sie keine Mühe hatte, seinen schwungvollen Bewegungen zu folgen. Fast die ganze Zeit über berührten sich ihre Hände, aber bei manchen Stellen der Musik hatte er auch einen Arm um ihre schlanke Taille gelegt. Sie musste den Kopf heben, um ihm in die Augen sehen zu können, obwohl sie selbst durchaus nicht klein war. Ihr Herz raste, denn noch nie hatte ein Mann sie so eng im Arm gehalten, aber die Aufregung war durchaus nicht unangenehm. Schnell begann sie, das ungewohnte Vergnügen dieses ländlichen Tanzes zu genießen.
Der Unbekannte schaute auf sie hinunter, während er sie eine schwungvolle Drehung vollführen ließ, und bemerkte mit einem unbekümmerten Grinsen: „Wenn Blicke töten könnte, müsste ich jetzt wahrscheinlich tot umfallen. Ihr abgewiesener Beau lässt uns keine Sekunde aus den Augen.“
Elisabeth hatte Mühe nicht laut loszulachen, als er ausgerechnet Lord Bellamy als Beau bezeichnete. Sie wusste natürlich, dass er scherzte, und es tat ihr unendlich gut, wie er Lord Bellamy verspottete.
„Oh, ich bin Ihnen so dankbar“, seufzte sie, während sie insgeheim die Stärke des Arms bewunderte, der sie führte. „Wenn ich noch einen einzigen Tanz mit Lord Bellamy hätte tanzen müssen, wäre ich gestorben.“
Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. „So schlimm?“
„Oh, noch viel schlimmer! Wenn Lord Bellamy mir noch ein einziges Mal näher gekommen wäre, hätte ich wahrscheinlich einen Schreikrampf bekommen. Ich bin so froh, dass Sie mich vor einer solchen Peinlichkeit bewahrt haben.“
„Nachdem ich der unfreiwillige Grund für Ihren verhinderten Rückzug war, war das wohl das Mindeste, was ich tun konnte.“ Sein Blick glitt abschätzend über sie hinweg, und in seinen Augen begann es zu funkeln. „Obwohl sich in diesem Fall ritterliche Pflichterfüllung und Vergnügen durchaus miteinander decken.“
„Sie sind zu freundlich, Sir“, murmelte Elisabeth mit einem leichten Erröten.
„Manchmal ist Freundlichkeit wie der Schafsmantel eines Wolfes“, spottete er lächelnd. „Auf jeden Fall weiß man oft nicht, was dahintersteckt.“
„Sie sprechen in Rätseln, Sir“, lachte sie und forschte in seiner Miene nach irgendeinem Hinweis auf die Bedeutung seiner seltsamen Worte. Wenn er einen Hintersinn damit verband, so verbarg er ihn jedenfalls gut hinter einem vergnügten Grinsen, und so stellte sie die nächste Frage, die ihr auf der Zunge brannte: „Sagen Sie, Sir, ich glaube nicht, dass ich Ihnen schon einmal irgendwo begegnet bin. Könnte es sein, dass Sie nicht in London leben?“
„Eigentlich ziehe ich das Landleben vor“, entgegnete er zu ihrer Überraschung. „Aber zeitweise lebe ich trotzdem in London.“
„Aber vermutlich nicht während der letzten Monate, die ich hier war. Sonst wären wir uns bestimmt einmal irgendwo begegnet, da meine Tante mir nicht gestattete, auch nur ein einziges gesellschaftliches Ereignis auszulassen.“
„Sie irren sich, die letzten vier Wochen habe ich beinahe ausschließlich in London verbracht.“
„Aber an jemanden wie Sie würde ich mich bestimmt erinnern!“, entfuhr es ihr, ehe sie sich bremsen konnte.
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte, fasziniert von ihrer Ehrlichkeit. „Vielen Dank, meine bezaubernde Unbekannte. Aber ich kann Sie beruhigen: Sie leiden nicht an Gedächtnisschwäche, sondern wir sind uns tatsächlich noch nie begegnet. Ich kann Ihnen nämlich versichern“, setzte er hinzu, und seine Stimme war auf einmal dunkel, und in seinen Augen leuchteten Sterne, „dass auch Sie mir unvergesslich geblieben wären!“
Von allen Verehrern, die ihr in den letzten Wochen den Hof gemacht hatten, hatte nicht einer versucht, so ungeniert mit ihr zu flirten, dachte Elisabeth alarmiert.
„Wenn Sie also augenblicklich doch in London leben, wie kommt es dann, dass wir uns noch nicht begegnet sind? Sie wirken schließlich nicht gerade wie jemand, der ein Einsiedlerleben in der Abgeschiedenheit seines Heimes verbringt und daher niemanden trifft.“
Grinsend versetzte er: „Sie irren sich schon wieder, Madam. Bisher habe ich in London an Veranstaltungen wie der heutigen kaum teilgenommen.“
„Oh. Dafür dass Sie nicht gern tanzen, sind Ihre Fähigkeiten auf dem Parkett aber beachtlich“, sprach Elisabeth ihre Gedanken laut aus.
Er lachte laut auf. „Vielen Dank für das Kompliment, Madam! Ich glaube, Sie sind die erste junge Dame, die andeutet, dass es mir an Erfahrung mangelt.“
„Das habe ich keineswegs gemeint, wie Sie wissen“, wies Elisabeth ihn lächelnd zurecht. „Jedenfalls bin ich froh, dass Sie heute eine Ausnahme gemacht haben.“
Ihr Lächeln erwidernd, erkundigte er sich. „Und Sie? Leben Sie in London, oder hat Sie nur die Ballsaison hergelockt?“
„Ich wohne augenblicklich hier bei meiner Tante und meinem Onkel.
„Die es sich in den Kopf gesetzt haben, Sie vorteilhaft unter die Haube zu bringen?“, zwinkerte er.
Errötend hob sie den Kopf. „Das kommt häufiger vor, wissen Sie.“
Er lachte leise. „Oh ja, ich weiß. Und was gedenken Sie, dagegen zu unternehmen?“
„Wie kommen Sie darauf, dass ich etwas dagegen unternehmen will?“
„Wollen Sie nicht?“
„Doch, unbedingt. Vielleicht ist es unvernünftig, aber, sehen Sie, ich kann mich einfach nicht damit abfinden, irgendjemanden zu heiraten, nur weil er … Geld hat oder … oder einen Titel. Ich weiß, dass es so üblich ist, aber …“
Sie brach verlegen ab. Ihr Tanzpartner betrachtete sie grübelnd. Aus Angst, dass sie vielleicht sein Mitleid erweckt haben könnte - was wirklich eine demütigende Vorstellung war -, lächelte sie bewusst fröhlich und ergänzte: „Vermutlich halten Sie mich jetzt für entsetzlich einfältig, dass ich mich überhaupt mit einem vollkommen Fremden wie Ihnen über solche Dinge unterhalte.“
„Um ehrlich zu sein, ich halte Sie für zauberhaft“, entgegnete er mit einer so überraschenden Ernsthaftigkeit, dass es ihr die Sprache verschlug. Noch vor wenigen Minuten hatte dieser Fremde so unverblümt geflirtet, dass sie ihn für einen ausgesuchten Schürzenjäger gehalten hatte. Doch jetzt war von seiner amüsierten Leichtigkeit nichts mehr zu spüren.
Sie war so damit beschäftigt, sein schmales Gesicht zu studieren, dass ihr nicht auffiel, dass die Musik nicht weiter spielte. Ihr Tanzpartner jedoch bemerkte, während er sie langsam aus den Armen ließ: „Die Musik ist zu Ende, und ich sehe bereits Ihren hartnäckigen Verehrer auf uns zusteuern.“
„Oh nein, nur das nicht“, stöhnte Elisabeth, entsetzt dass sie überhaupt nicht mehr auf Lord Bellamy geachtet hatte.  „Bitte … würde es Ihnen etwas ausmachen, mich in den Garten  zu führen? Oder ganz egal wohin, nur an irgendeinen Ort, wo er mich nicht findet?“
Deutlich belustigt bot er ihr seinen Arm. „Mit dem größten Vergnügen!“
Rasch hatte er sie zu den französischen Terrassentüren geführt, und sie traten hinaus in den nur schwach durch wenige Fackeln beleuchteten Garten. Obgleich Elisabeth sich halbwegs sicher war, dass der unbekannte Mann sie nur aus höflicher Galanterie heraus begleitete, war die Situation doch seltsam erregend. Sich mit einem männlichen Wesen, mit dem man nicht mindestens verlobt war, allein in die vertrauliche Abgeschiedenheit eines lauschigen Plätzchens zurückzuziehen, war etwas, das sich nicht schickte. Aber so, wie die Dinge lagen, war sie zu beinahe jeder ruchlosen Tat bereit, solange sie das vor den schwülstigen Umarmungen Lord Bellamys bewahrte. Und ruchlos war es in der Tat, sich mit diesem absolut Fremden hier heraus zu stehlen. Darüber hinaus war sie sich der Attraktivität des Mannes an ihrer Seite nur zu deutlich bewusst. Im Schatten der Bäume waren von seinem schmalen Gesicht zwar nur die Konturen zu erkennen, und doch hatte seine Gegenwart eine angenehm erregende Wirkung auf sie.
Schweigend schlenderten sie durch die verwinkelten Gänge des labyrinthartigen, durch aufgestellte Fackeln erleuchteten Gartens. Ihr Begleiter schien darauf zu warten, dass sie das Wort ergriff, doch je mehr ihr seine Nähe bewusst wurde,  desto weniger wollte ihr eine geistreiche Bemerkung einfallen. Also griff sie das Banalste auf, das ihr in den Sinn kam. „Es ist eine erstaunlich warme Nacht heute, finden Sie nicht?“
Die Belustigung in seiner klangvollen Stimme war nicht zu überhören: „Sehr warm, ja. Und trotzdem zittern Sie.“
Elisabeth konnte unmöglich zugeben, dass seine Nähe sie plötzlich so nervös machte. „Es war nur eine Spinne, die mir über den Arm lief“, log sie in Ermangelung einer besseren Ausrede.
„Eine Spinne, ach so.“ Er schien ihre Erklärung ungerührt hinzunehmen. Dann blieb er stehen und wandte sich ihr zu. Augenblicke später spürte sie seine Hand auf ihrem Arm, als er sie unvermittelt zu sich heranzog. „Sie zittern aber immer noch. Sind Sie sicher, dass die Spinne fort ist?“
„Ganz … ganz sicher“, stammelte Elisabeth. Ihre Sinne spielten verrückt, sie fühlte sich so geborgen, wenn er sie hielt, und gleichzeitig so verwirrt. Ein Teil von ihr wollte fortlaufen, zurück in den Ballsaal. Dieser Fremde war auf  einmal eine viel größere Bedrohung als Lord Bellamy, denn er brachte sie durcheinander. Und doch blieb sie, konnte sich nicht vom Fleck rühren, wie magisch angezogen von diesem hochgewachsenen Mann, den sie doch erst seit weniger als einer Viertelstunde kannte.
Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme, als er sehr sanft fragte: „Madam, könnte es sein, dass ich Sie nervös mache?“
„Wir … wir sollten hineingehen“, erklärte Elisabeth matt. „Unsere Abwesenheit wird bestimmt auffallen.“
„Mag sein. Aber das wussten Sie doch schon, als Sie mich baten hinauszugehen.“
„Ja, ich weiß, aber …“ Unsicher verstummte sie.
Mit einem leisen Auflachen ließ er sie los. „Nun, Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich falle nicht über Sie her.“
„Oh, das ist es nicht, was ich fürchte, Sie sind sicher sehr ehrenwert, nur …“
„Nur … was?“, hakte er mit samtweicher Stimme nach.
„Nun … alles … geht so schnell. Es ist so verwirrend, und ich … nun, ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen.“
„Das lässt sich ändern“, lächelte er, und in seiner Stimme schwang Bewunderung für ihren Mut mit, einzugestehen, dass er sie verwirrte. Mit einer schwungvollen Verbeugung schlug er die Hacken zusammen und erklärte in einer spöttischen, gleichwohl unnachahmlich höfischen Pose der Etikette: „Nicholas Sheffield, zu Ihren Diensten, Madam!“
Elisabeth erstarrte, als sie seinen Namen hörte. Sekundenlang stand sie wie gelähmt da. Irgendetwas in ihr weigerte sich, der unangenehmen Tatsache ins Gesicht zu blicken, und doch war ihrem Verstand die ganze Tragweite der Situation schlagartig klar: Von allen Männern auf dem Ball hatte es ausgerechnet dieser sein müssen, den sie anrempelte und daraufhin um Hilfe bat. Nicht irgendein Mann, nein, sondern ausgerechnet Nicholas Sheffield, der ihrem Onkel und damit irgendwie auch ihr selbst Rache geschworen hatte! Der es sich zum Ziel gesetzt hatte, sich von ihrem Onkel sein vermeintliches Eigentum zurückzuholen. Und der ihrem Onkel womöglich Schlimmes antun wollte! Alles, was sie über ihn gehört hatte, fiel ihr wieder ein, und ein kalter Schauder der Angst jagte ihr über den Rücken.
Als zielstrebig und bemerkenswert intelligent hatte Lord Winterbottom ihn beschrieben. Elisabeth konnte sich jetzt, da sie Nicholas Sheffield gegenüberstand, sehr gut vorstellen, dass diese Eigenschaften auf ihn zutrafen. Und doch fiel es ihr schwer, die unredlichen Charaktereigenschaften, die Sheffield ebenfalls nachgesagt worden waren, mit diesem virilen und humorvollen Mann, als der er sich ihr seit Beginn ihrer kurzen Bekanntschaft präsentiert hatte, in Einklang zu bringen. Elisabeth war so erschreckt und verwirrt von der unerwarteten Entwicklung, die ihr Benehmen an diesem Abend heraufbeschworen hatte, dass sie nervös einige Schritte zurückwich.
„Wie ich sehe, ist Ihnen mein Name nicht unbekannt“, stellte Nicholas Sheffield mit gänzlich veränderter, ausdrucksloser Stimme fest und reckte das Kinn vor.
Elisabeth starrte blinzelnd in seine unnahbare Miene, die ebenfalls nicht mehr das geringste Anzeichen von Humor erkennen ließ. Nervös biss sie sich auf die Lippen.
„Vielleicht wünschen Sie, in den Ballsaal zurückzukehren“,  schlug Sheffield betont kühl vor. Er verschränkte die Arme und setzte achselzuckend hinzu: „Ich nehme zumindest an, dass Ihnen meine Begleitung nun stärker zuwider ist als die Ihres Verfolgers von vorhin.“
„Ja … ich meine, nein, ich meine … Ach du liebe Güte!“ Von ihrem eigenen Gestammel frustriert, wandte Elisabeth sich abrupt ab. Sie versuchte, ihre Fassung zurückzuerlangen, indem sie sich eine Weile der Betrachtung der Sterne widmete, und zu ihrer überraschten Dankbarkeit stellte sie fest, dass der Fremde - nein, dass Nicholas Sheffield ihr die Zeit gewährte, die sie brauchte, um wieder klar denken zu können. Sie fand das sehr großzügig von ihm, und dann musste sie sich eingestehen, dass er bis zu dem Punkt, da sie so entsetzt auf seinen Namen reagiert hatte, nichts anderes gewesen war als hilfsbereit und freundlich.
Sie schluckte und atmete ein paarmal tief durch. Vielleicht taten ihm die Gerüchte, die ihn als hart beschrieben und denen zufolge er den Ruin ihres Onkels betrieb, ja tatsächlich Unrecht. Bisher gab es jedenfalls keinen Beweis dafür, dass das, was die Leute von ihm behaupteten, auch wirklich stimmte!
Als sie sich nach ein paar Minuten halbwegs sicher war, ihm ruhig und gefasst entgegentreten zu können, riskierte sie zunächst einen vorsichtigen Blick über die Schulter.
Er stand noch an seinem Platz und bot, die Hände in den Hosentaschen vergraben, ein Bild gelangweilter Arroganz. „Wenn Sie es vorziehen, ohne mich in den Ballsaal zurückzukehren, warte ich hier einige Minuten“, erklärte er, als er ihren Blick bemerkte. „Vielleicht haben Sie Glück, und man hat vorhin nicht bemerkt, mit wem Sie verschwunden sind.“
Elisabeth brachte ein unsicheres Lächeln zustande, denn trotz seines eisigen Tonfalls entging ihr nicht, dass er sich um Höflichkeit bemühte. Sie wandte sich ihm zu, hielt aber einige Schritte Abstand. „Nein, verzeihen Sie“, entgegnete sie vorsichtig auf seinen Vorschlag. „Ich fürchte, ich … ich danke Ihnen Ihre Hilfe von vorhin sehr schlecht.“
Seine Braue zuckte hoch, und er verbeugte sich leicht. „Wie ich schon sagte - reines Pflichtgefühl. Machen Sie sich darüber keine Gedanken.“
„Oh“, hauchte Elisabeth, und widersinnigerweise überkam sie fast so etwas wie ein schlechtes Gewissen. „Ich habe Sie verletzt.“
„Nicht die Spur“, versetzte er gleichmütig. Seine Miene  wirkte verschlossen wie zuvor, doch der harte Ausdruck seiner Augen war unmerklich milder geworden. „Es verwirrt mich lediglich, dass Sie anscheinend irgendwelchen Gerüchten, die Sie über mich gehört haben mögen, Glauben schenken.“
„Welche Gerüchte meinen Sie?“
„Gibt es so viele?“, konterte er.
„Nun … einige“, entgegnete sie zögernd.
Seine Braue zuckte hoch. „Als da wären?“
Elisabeth zauderte. Ihr war klar, dass Nicholas Sheffield sie mit herablassender Arroganz verspottete, und doch drängte es sie, weiter zu fragen. Der Wunsch, die Wahrheit über seine Absichten zu erfahren, wurde auf einmal fast übermächtig. Sie kam zu dem Schluss, dass er eigentlich kaum abstreiten konnte, dass ihre Neugier berechtigt war, wenn er erst wüsste, wer sie war.
Sie musterte ihn, soweit das im Laternenlicht möglich war, und wagte sich langsam einen Schritt vor.
„Es heißt“, begann sie zögernd, „Sie hätten die Absicht, Ihre verlorengegangenen Ländereien und Titel zurückzuerlangen. Ich habe gehört, dass Sie sich rächen wollen, weil man Ihren Vater hingerichtet hat. Einige glauben, Sie machten Sir Harry Danby dafür verantwortlich und wollten ihn deswegen  in den Ruin treiben - oder Sie hätten sogar noch Schlimmeres mit ihm vor.“
Seine Brauen zogen sich so unheilvoll zusammen, dass sie fast zu atmen vergaß. „Und wenn es so wäre“, fragte er kurzangebunden, „ginge es Sie etwas an?“
„Das tut es, in der Tat“, entgegnete sie ebenso eisig, und ohne den Blick von dem zornigen Ausdruck in seinen Augen abzuwenden. „Sir Harry ist mein Onkel!“
Der Anflug echter Überraschung in seinem Gesicht verschaffte ihr eine gewisse Genugtuung. Doch seine nächsten Worte machten dieses Gefühl zunichte. Die Arme vor der Brust verschränkend, blickte er auf sie herab und lachte höhnisch auf. „Ach, so ist das! Und Sie sind vermutlich ausgeschickt worden, um meine finsteren Pläne und Absichten auszukundschaften!“
Er sah die Empörung in ihren ausdrucksvollen Augen, aber es traf ihn trotzdem völlig unvorbereitet, als sie blitzschnell die Hand hob und ihm eine schallende Ohrfeige versetzte, sodass sein Kopf zur Seite flog. Sie rechnete mit irgendeiner heftigen Reaktion und wich instinktiv zurück. Aber er fasste nur mit einer Hand an seine Wange und starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an. Es mangelte ihm nicht an wütenden Worten, die er ihr hätte sagen können, aber etwas in seinem Inneren hinderte ihn daran, und so  beschränkte er sich darauf, sie lediglich zornig zu mustern.
Unter Aufbietung all ihrer Willenskraft gelang es Elisabeth, diesem vernichtenden Blick standzuhalten. Der ängstliche Teil in ihr wollte fortlaufen, zurück in den Ballsaal, aber ihr Sinn für Gerechtigkeit widersprach, dass sie ihm zumindest die Chance zu einer Erwiderung schuldig war. Hocherhobenen Hauptes verharrte sie an ihrem Platz.
Nach einer Weile milderte sich sein harter Ausdruck, und ein Schleier kühler Höflichkeit legte sich über seine Züge. „Nun, wie ich sehe, haben Sie zumindest Mut und rennen nicht davon. Ich nehme also an, dass Ihre Empörung echt ist.“
„Worauf Sie Gift nehmen können!“, fauchte Elisabeth.
„Nicht nur mutig, sondern auch angriffslustig! Meine Hochachtung, Madam!“
Sein Ton war spöttisch, und doch spürte sie hinter seinen Worten eine Spur echter Anerkennung, was ihr Gemüt ein wenig besänftigte. Und das war noch, bevor er unvermittelt dichter auf sie zu in den Schatten der Bäume trat, als andere Stimmen im Garten zu hören waren.
Seine plötzliche körperliche Nähe wirkte verheerender auf ihre innere Abwehr, als jegliche Worte es vermocht hätten. Sie hatte plötzlich das sichere Gefühl, dass sein Zorn über die allgemeine Beurteilung seiner Absichten echt war, und war absurderweise bereit, ihm tatsächlich einen besseren Charakter zuzugestehen. Es war albern und lächerlich, ihn anders zu beurteilen, nur weil sie ihn attraktiv fand, und dennoch: Beruhte alles, was sie bisher angenommen hatte, nicht auf Gerüchten? Und war es nicht eigentlich grundverkehrt, jemanden nur auf Grund von Gerüchten vorweg zu verurteilen?
„Nun“, hörte sie ihn mit einer Stimme sagen, in der tatsächlich wieder eine Spur von Belustigung mitschwang,  „wie fällt Ihre Beurteilung aus? Gehöre ich zu den Verdammten der Hölle, oder gebührt mir noch eine Chance?“
Er musste ihren Gedankengang zumindest ansatzweise erraten oder an ihrem Mienenspiel abgelesen haben. Dass ihm das so leichtfiel, gefiel ihr gar nicht, aber nichtsdestotrotz war sie froh, dass er weniger verärgert wirkte, und sie bemühte sich um eine ehrliche Antwort: „Ich weiß es nicht“, seufzte sie.
Er lachte, und sie hatte den Eindruck, dass er tatsächlich nicht mehr zornig war. „Ein Riss in der Festung, immerhin! Dann hätten Sie also nichts dagegen, wenn ich Sie in den Ballsaal zurückbegleite?“
„Natürlich nicht“, entgegnete sie, vollkommen durcheinander von seinen wechselnden Launen.
Sie wollte sich in Bewegung setzen, doch da ergriff er  ihren Arm und hielt sie zurück. „Sie kennen jetzt meinen Namen“, erklärte er, „aber ich weiß bisher nur, dass Sie Sir Harrys Nichte sind und Ihr Vorname Elisabeth ist. Wäre es zu viel verlangt zu bitten, dass Sie mir, ehe wir zurückgehen, Ihren vollständigen Namen nennen?“
Sie sah zu ihm auf und versank in der dunklen Tiefe seiner schimmernden Augen. „Elisabeth … Danby“, flüsterte sie, seltsam unsicher.
Sein Blick ruhte mehrere Sekunden lang auf ihr, wobei er sich jede Einzelheit ihres Gesichts einzuprägen schien. Dann lächelte er unvermittelt. „Miss Danby“, murmelte er sehr weich. „Es ist mir ein Vergnügen.“

Lady Worthingtons Gesichtsausdruck sprach Bände, als Elisabeth an Nicholas Sheffields Seite in den Ballsaal zurückkehrte. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, geleitete Sheffield sie an den Tanzenden vorbei artig bis zu ihrer Tante. Beim Anblick ihrer gerunzelten Stirn hob Elisabeth trotzig das Kinn, während Sheffield, dem der Ausdruck tiefster Missbilligung seiner Person nicht entging, sich beinahe grinsend verabschiedete.
Erwartungsgemäß dauerte es keine zwei Minuten, bis Lord Bellamy auftauchte. Elisabeth hegte die ärgsten Befürchtungen, was nun kommen möge, aber er blickte sie nicht einmal an, sondern richtete das Wort ausschließlich an ihre Tante.
„Ich habe Sie in meiner Kutsche herbegleitet“, erklärte er mit einem herablassenden Näseln. „Sie steht Ihnen selbstverständlich für Ihre Heimfahrt zur Verfügung.“
Dann machte er auf dem Fuße kehrt, um demonstrativ eine elegante Brünette zum nächsten Tanz zu bitten, und ließ eine erleichterte Elisabeth und eine äußerst düpierte Lady Worthington zurück.
Nur fünf Minuten später saßen diese bereits in seiner Kutsche, und dort ging eine wahre Schimpfkanonade auf Elisabeth nieder, wie sie schlimmer nicht hätte ausfallen können.
Elisabeth nahm den Wutausbruch ihrer Tante zunächst schweigend hin. „Schlimm genug, dass du Lord Bellamy brüskierst! Aber dann auch noch Sheffield zu deinem Gehilfen zu machen! Dieser niederträchtige Schurke, dieser Betrüger, dieser Hochstapler! Wie kommt er überhaupt zu einer Einladung zu einem solchen Ball, wo man doch nur ehrenwerte Gäste erwartet! Nein, ich fasse es nicht, ich werde wirklich ein Wörtchen mit Lady Beaufort reden müssen! Nun, die arme Seele weiß vermutlich gar nicht, mit wem sie sich da abgibt. Aber du! Du wirfst dich dem ärgsten Feind deines Onkels an den Hals, sodass -“
„Tante Heather!“, begehrte Elisabeth empört auf.
Doch Lady Worthington überging ihren Einwand. „Wirklich, wie konntest du nur!“, empörte sie sich. „Ausgerechnet Sheffield! Wenn das bekannt wird!“
„Also wirklich, Tante Heather, ich habe nicht -“
„Keine Widerrede, junge Dame! Ich bin zutiefst empört! Und das, wo ich dir ausdrücklich nahegelegt habe, freundlich zu Lord Bellamy zu sein. So eine gute Partie! Und du läufst ihm einfach davon in die Arme Sheffields hinein. Und zu allem Überfluss tanzt du auch noch mit ihm! Hat man je gehört, dass sich eine Lady, die etwas auf sich hält, dazu herablassen würde, mit jemandem zu tanzen, der ihr nicht vorgestellt wurde! Wirklich, Elisabeth, dein Verhalten ist skandalös!“
„Wenn Lord Bellamy bessere Manieren hätte, wäre ich überhaupt nicht in die Situation geraten, mit Sheffield tanzen zu müssen!“, begehrte Elisabeth auf.
„Du hast es nötig, von Manieren zu sprechen, junge Dame! Nach der empörenden Weise, wie Sheffield mit dir getanzt hat! Mag ja sein, dass man auf dem Kontinent so tanzt, wo der Unhold herkommt, aber bei uns in London! Musste denn Lady Beaufort auch unbedingt einen ländlichen Tanz spielen lassen! Ein Cotillon wäre tausendmal besser gewesen! Aber ein ländlicher Tanz! Wenn du ihn dann wenigstens mit Bellamy getanzt hättest! Stattdessen musste er zusehen, wie du dich Sheffield an den Hals wirst! Ausgerechnet! Es ist ein Wunder, dass der gute Lord Bellamy uns nicht zu Fuß nach Hause gehen lässt.“
„Dafür wäre er doch viel zu feige!“, entfuhr es Elisabeth. „Wirklich Tante Heather, Lord Bellamy ist eine schleimige Kröte, und ich bin froh, wenn er heute endlich begriffen hat, dass ich mir nichts aus ihm mache.“
Lady Worthington seufzte tief auf und schüttelte den Kopf. Nachdem sie ihrer Empörung ausreichend Luft gemacht hatte, folgte nun ihr Kummer über Elisabeths weiteres Schicksal: „Kind, du wirst nie eine gute Partie machen, wenn du so wählerisch bist. Lord Bellamy ist reich und von hoher Geburt. Jede andere Frau wäre glücklich, wenn sie …“
Elisabeth kannte die Worte auswendig, die jetzt kamen, und hörte kaum noch hin. Mochte Lady Worthington sagen, was sie wollte, sie war froh, den aufdringlichen Lord los zu sein. Gleichwohl fühlte sie sich müde und erschöpft. Mitternacht war lange vorbei, und sie sehnte sich nach ihrem Bett. Sie hatte Grund zur Freude, und doch war sie bedrückt - doch nein, nicht eigentlich bedrückt, aber irgendwie aufgewühlt, und schlimmer als sonst packte sie die Sehnsucht und Trauer um ihre Eltern. Sie vermisste ihre Herzlichkeit, ihre Wärme und ihr Lachen so sehr! Wo war bloß die Fröhlichkeit in ihrem Leben geblieben? Bei vielen Vergnügungen, denen sie in London nachging, wurde ausgelassen gelacht und gefeiert, aber das waren alles so oberflächliche Amüsements! Elisabeth vermisste das Lachen, das aus dem Herzen kam, wie sie es von ihren Eltern kannte. Sie vermisste ihre Natürlichkeit. Und vor allem vermisste sie das Gefühl von tiefer, inniger Liebe.
Die Kutsche hielt vor ihrem Haus und Elisabeth wurde aus ihren Gedanken gerissen. Sie schüttelte den Kopf und fragte sich, wie ihre Gedanken in eine derart melancholische Richtung hatten abgleiten können. Vielleicht war Nicholas Sheffield daran schuld, denn für einen winzigen Augenblick hatte sie in seiner Nähe dieses Gefühl von Wärme gehabt, das sie so vermisste. Wie absurd, wie lächerlich, schimpfte sie und fühlte sich schon wieder deprimiert. Lieber Himmel, was war sie nur für ein Trauerkloß! Sie musste wirklich sehen, dass sie ins Bett kam.


bottom of page