Warrington - Geheimnis des Herzens (Warrington Trilogie 2)
1
Sorgenvoll blinzelte Lady Elaine Lockwood aus dem Fenster ihrer komfortablen Reisekutsche und verwünschte zum wiederholten Mal den heftigen Schneesturm, der innerhalb der letzten Stunden aufgezogen war. Dichte Flocken, so groß wie Münzen, wirbelten gegen die Scheibe und machten es nahezu unmöglich, irgendetwas von der Landschaft zu erkennen. Weder war aus dem einen Fenster heraus das Meer zu sehen, obwohl sie direkt oberhalb der Klippen die schmale Küstenstraße nach Dover entlangfuhren. Noch brachte es etwas, zur anderen Seite hin aus dem Fenster zu blicken, wo sich die hügelige Landschaft der nördlichen Downs erstreckte. Selbst die Straße war unter den Schneemassen kaum noch zu erkennen, und die Temperatur war drastisch gesunken. Zwar schützten die junge Frau der pelzbesetzte schwere Samtmantel und der dazugehörige Pelzmuff zusammen mit mehreren Decken und den wärmenden Ziegelsteinen unter ihren Füßen zumindest ausreichend vor der beißenden Kälte. Doch allmählich begann Elaine sich zu fragen, ob ihr Wagen nicht irgendwann im Schnee steckenbleiben würde, falls der Schneefall nicht bald nachließ.
Ihre dunklen Brauen waren über ihren ausdrucksvollen tiefblauen Augen finster zusammengezogen, während sie sich tadelnd vorwarf, wie leichtsinnig es gewesen war, an einem wolkenverhangenen Januarmorgen wie diesem nach Dover aufzubrechen. Sie hätte auf ihren Kutscher hören sollen, der sie vergeblich davor gewarnt hatte, dass ein Unwetter drohte. Aber nachdem ein Bediensteter von Warrington Manor in einer Schenke in Dover mitangehört hatte, wie ein Fischer damit prahlte, etwas über das Schicksal des verschollenen Earls of Warrington zu wissen, hatten sie nicht einmal Lady Albinias flehentliche Bitten von einer Fahrt nach Dover abhalten können.
Gewiss, wäre ihr Bruder Anthony da gewesen, dann wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, sich eigenständig, nur in Begleitung des Kutschers und eines jungen Dieners, auf den Weg zu einer Fischerkneipe zu machen. Aber Anthony war auf der anderen Seite des Ärmelkanals, irgendwo in Frankreich, wegen der Gerüchte, dass Edward Lockwood Lord Warrington, Elaines und Anthonys Vater, möglicherweise dorthin verschleppt worden war. Als ihr Bruder sich vor zwei Wochen auf den Weg nach Frankreich gemacht hatte, hätte Elaine ihn am liebsten begleitet. Denn obwohl ihr Vater von den örtlichen Behörden offiziell für tot erklärt worden war, klammerte sich Elaine, genau wie Anthony, an die vage Hoffnung, dass der Earl of Warrington seinen Sprung über die Klippen ins offene Meer überlebt hatte. Aber Anthony, augenblicklich offiziell der neue Earl of Warrington, war in Begleitung seiner frisch angetrauten Ehefrau gereist. Die beiden waren so verliebt, dass Elaine sich wie ein fünftes Rad am Wagen vorgekommen wäre. Und obendrein hatte Anthony gemeint, es wäre vielleicht besser, wenn sie in England bliebe, falls es neue Informationen gäbe. Dass das nun ausgerechnet dann der Fall war, wenn ein Schneesturm aufzog und Elaines weitere Nachforschungen behinderte, indem er sie zum Umkehren zwang, war allerdings so frustrierend, dass Elaine am liebsten laut geflucht hätte, wie ihr Bruder es manchmal tat.
Immerhin, überlegte sie traurig, während sie die Decken fester über die Beine zog, galt inzwischen als bewiesen, dass ihr Vater nicht in selbstmörderischer Absicht ins Meer gesprungen war. Stattdessen musste dem Earl sein Sprung als letzter Ausweg vor seinen Feinden erschienen sein, die ihn an den Klippenrand gedrängt hatten. So jedenfalls stellte es sich dar, wenn man einem der bei dem Geschehen beteiligten Unholde glauben sollte. Außerdem hatte diese Kreatur namens Gideon Colwood behauptet, ihr Vater hätte den Sprung überlebt und sei davon geschwommen wie ein Fisch. Auch wenn Letzteres sicher übertrieben war, so war es doch zumindest ein Hoffnungsschimmer. Der Umstand, dass sich die Verbrecher, die sowohl Elaines Vater als auch ihren Bruder Anthony hatten beseitigen wollen, um ihre niederträchtigen Pläne auf Warrington Manor durchführen zu können, nach ihrer Verhaftung vor zwei Monaten inzwischen teilweise wieder auf freiem Fuß befanden, war hingegen höchst beunruhigend. Elaine konnte noch immer nicht fassen, dass man Sir Frederic Colwood und Lord Bellamy lediglich des Landes verwiesen hatte. Und Sir Frederics Sohn, Gideon Colwood, durfte sich nach Zahlung einer Geldstrafe sogar wieder frei in England bewegen und kümmerte sich jetzt um den Besitz seines Vaters Fairinge im Herzen der Grafschaft Kent. Zugegeben, Gideon Colwood hatte nur eine unbedeutende Rolle in dem Komplott gespielt, das sich in erster Linie gegen Englands Krone und erst in zweiter Linie gegen die Lockwoods gerichtet hatte. Nichtsdestotrotz war er an der Verschwörung beteiligt gewesen, die Elaines Bruder beinahe an den Galgen gebracht und ihren Vater in den vermeintlichen Selbstmord getrieben hatte. Gar nicht zu reden davon, dass Gideon Colwood Elaine zusammen mit seinem Vater entführt hatte! Elaine war überzeugt, dass ihr Bruder getobt hätte, wenn er von den himmelschreiend milden Urteilen gewusst hätte, und sie obendrein nicht zuhause zurückgelassen hätte. Doch die Urteile waren erst gefällt worden, nachdem Anthony bereits abgereist war. Somit war Elaine mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Obwohl, ganz allein stimmte eigentlich nicht. Anders als in der Zeit, in der Anthony inhaftiert und später auf der Flucht gewesen war und ihr Vater als tot galt, hatte Elaine inzwischen Lady Albinia an ihrer Seite, die Tante ihrer Schwägerin Victoria. Und Victorias Bruder Robert Ashton, der Earl of Westshire, wäre auch nur zu gern bereit, zu Elaines Schutz und Begleitung bei jeder Gelegenheit zur Verfügung zu stehen. Jedoch hatte Elaine inzwischen den Verdacht, dass Robert mehr als nur freundschaftliche oder verwandtschaftliche Gefühl für sie entwickelt hatte. Doch obwohl Elaine Victorias Bruder schrecklich gern hatte und zu Beginn ihrer Bekanntschaft sogar kurz geglaubt hatte, dass sich aus ihrer gegenseitigen Zuneigung mehr entwickeln könnte, sah sie in ihm mittlerweile eher so etwas wie einen zweiten Bruder. Davon abgesehen jedoch würde sie Robert ein Leben lang dankbar sein für das, was er für Anthony getan hatte. Denn hätte Robert Ashton nicht angefangen, nach Anthonys Verurteilung als Mörder und anschließender Flucht aus dem Newgate-Gefängnis hartnäckig in dem Fall nachzuforschen, wäre es Anthony sicherlich nie gelungen, den Fall in Whitehall erneut zur Verhandlung zu bringen und einen Freispruch zu erwirken.
Elaine seufzte leise und warf einen weiteren Blick aus dem Fenster. Wenn es irgend möglich war, schien der Schneesturm sogar noch zugenommen zu haben. Es beruhigte sie etwas, dass Henderson auf dem Kutschbock saß, ein erfahrener Kutscher, der seit Jahrzehnten im Dienst der Lockwoods stand. Er kannte die Gegend, durch die sie fuhren, wie seine Westentasche, da er hier aufgewachsen war. Aber auch er vermochte nichts gegen vereiste Straßen oder unter der Schneelast oder durch den Sturm herabstürzende Äste zu unternehmen.
Als ob er ihre Gedanken erraten hätte, hielt Henderson den Wagen plötzlich an und rief vom Kutschbock hinunter in die Kutsche hinein: „Es tut mir schrecklich leid, Lady Elaine, aber der Schneesturm wird immer schlimmer! Ich fürchte, wir schaffen es nicht mehr bis nach Warrington Manor! Besser wir suchen irgendwo Schutz!“
„Schutz? – Nun gut, aber wo?“, rief Elaine, gegen den Sturm an, zurück.
„Die Nebenstrecke nach Warrington Manor führt an der alten Papiermühle vorbei, die vor ein paar Jahren stillgelegt wurde. Dort könnten wir Unterschlupf finden, bis der Sturm vorüber ist, und dann später die Fahrt fortsetzen.“
„In der alten Mühle?“, stöhnte Elaine. „Aber – lieber Himmel, der Weg dorthin ist kaum mehr als ein Pfad! Finden Sie den überhaupt, Henderson? Und ist er befahrbar?“
„Die Straße kann nicht schlimmer sein als diese, Mylady“, entgegnete Henderson vom Kutschbock herunter. „Was entscheidend ist, ist, dass es bis zur Mühle nur wenige Meilen wären. Deutlich weniger als bis nach Hause nach Warrington Manor. Und finden, meine Güte! Ich würde die Strecke im Schlaf finden!“
„Also gut“, stimmte Elaine mit einem mulmigen Gefühl zu. „Dann bringen Sie uns zur Mühle. Ich hoffe nur, wir stecken dann dort nicht für länger fest.“
Augenblicke später waren sie auf der alten, kaum noch genutzten Straße, die zu der nach dem Tod ihres Betreibers stillgelegten Papiermühle führte. Der Schnee bedeckte die Landschaft inzwischen so dicht, dass kaum noch zu erkennen war, wo die Straße und wo die seitlichen Gräben waren, und Elaine betete, dass Henderson die Gegend wirklich so gut kannte, wie er behauptete. Ängstlich spähte sie immer wieder aus dem Fenster, konnte aber kaum ein paar Meter weit sehen. Doch plötzlich hielt Henderson die Kutsche mit einem lauten Ruf und einem Ruck an.
„Gütiger Himmel, was ist los?“, rief Elaine, die sich fürchterlich erschrocken hatte.
Henderson sprang bereits vom Kutschbock und blinzelte zu ihr durchs Fenster. „Weiß nicht, Mylady. Irgendwas liegt auf der Straße. Vielleicht ein zugeschneiter großer Ast. Ich will nicht riskieren, da rüber zu fahren. Womöglich bricht uns ein Rad oder der Wagen kippt. Besser, wir räumen das Hindernis beiseite.“
„Ja, natürlich“, stimmte Elaine sofort zu und lehnte sich beruhigt zurück in die Polster. Doch Sekunden später fuhr sie wieder hoch, als Henderson laut fluchte.
„Bei allen Heiligen! Das ist kein Ast! Da liegt ein Toter!“
„Um Gottes willen!“, keuchte Elaine, warf die Decken vom Schoß und öffnete den Verschlag. Mit einem Satz war sie auf der schneebedeckten Straße, wo sie bis zum Schaft ihrer Stiefel im Schnee versank. Binnen Sekunden war das Samthäubchen auf ihren dunklen Locken von weißen Flocken bedeckt.
„Ein Soldat, wie es aussieht, Mylady“, erklärte Henderson, während sie sich durch den Schnee zu ihm und dem neben ihm stehenden Diener kämpfte. Zu Hendersons Füßen lag ein Mann, eine Gesichtshälfte im Schnee, die andere zugeschneit. Außer ein paar Strähnen dunkelbrauner Haare und der roten Farbe seiner Uniform, die durch die Schneeschicht hindurchblitzte, war von dem Mann allerdings nicht viel zu erkennen.
„Vielleicht lebt er noch!“, stieß Elaine hoffnungsvoll hervor, als sie Henderson neben der leblosen Gestalt erreichte.
„Der fühlt sich eiskalt an, Mylady“, versetzte Henderson kopfschüttelnd, hob aber dennoch das Handgelenk des Mannes und tastete nach dem Puls. „Zum Donnerwetter! Tatsächlich ein Pulsschlag! Schwach, aber deutlich zu fühlen!“
„Wir müssen ihn mitnehmen und ins Warme bringen!“, stellte Elaine pragmatisch fest. „Bringen Sie ihn in die Kutsche, Henderson. Jack kann mit anfassen.“
„Ja, aber erstmal sollten wir ihn vom Schnee befreien“, riet der gerade erst siebzehnjährige Jack, der mit blasser Miene auf die Gestalt im Schnee starrte. „Das taut sonst alles im Wagen, wo es wärmer ist als hier draußen. Wenn der Mann nicht sowieso erfriert, bekommt er sonst wegen der Nässe auch noch ne Lungenentzündung!“
„Ziemlich klug gedacht, für so einen jungen Burschen wie dich“, staunte Henderson und wischte vorsichtig die dünne Schneeschicht beiseite, welche die nach oben gewandte Gesichtshälfte und die breiten Schultern des besinnungslosen Mannes bedeckte.
Elaine schnappte keuchend nach Luft und starrte wie vom Donner gerührt in das bleiche, vor Kälte blau angelaufene schmale Gesicht. Fassungslos würgte sie hervor: „Oh mein Gott! – Das ist Major Whitthurst!“
„Whitthurst?“, wiederholte Henderson verblüfft und warf einen scharfen Blick auf die gutgeschnittenen Züge des Bewusstlosen. „Der junge Major, der auf Warrington Manor diese Verbrecher verhaftet hat, nachdem die Sie entführt hatten? Donnerwetter!“
„Oh Gott, wir müssen etwas tun!“, wimmerte Elaine, der vor Angst beinahe übel wurde. „Wir können den Major doch nicht hier sterben lassen!“
„Ich glaube, der Mann ist verletzt, Lady Elaine“, bemerkte Jack. „Sehen Sie nur den roten Fleck im Schnee. Das ist Blut.“
Henderson fluchte unterdrückt und drehte den Major behutsam auf den Rücken. Elaine kniete ungeachtet der Schneemassen neben dem leblosen Major nieder und berührte mit zittrigen Fingern den dunklen Fleck, der den roten Uniformrock oberhalb der linken Schulter verfärbt hatte. Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass es tatsächlich Blut war.
„Der Major muss überfallen worden sein“, überlegte Henderson grimmig. „Und das kann noch nicht allzu lange her sein. Sehen Sie sich die Hufabdrücke auf dem Weg an, Mylady, die sind noch nicht ganz zugeschneit, also noch frisch. Das können nur die Spuren der Täter sein.“
„Wieso trägt der Major nur eine Uniform?“, fragte Jack nachdenklich. „Das ist doch viel zu wenig bei dieser Kälte.“
„Natürlich ist das zu wenig“, brummte Henderson. „Mit Sicherheit wird der Major einen Mantel angehabt haben, den das Gesindel gestohlen hat. Selbst die Knöpfe seiner Uniformjacke und die Epauletten haben die abgetrennt, wahrscheinlich, um sie in bare Münze umzuwandeln! Nicht zu fassen!“
„Ob der Major auch ein Pferd dabei hatte?“, überlegte Jack stirnrunzelnd.
„Na, was denkst du denn!“, schnaufte Henderson. „Er wird sich wohl kaum zu Fuß hier herumgetrieben haben. Wobei ich mich frage, was er überhaupt ganz allein in dieser Gegend wollte. Noch dazu bei diesem Wetter.“
Elaine nickte gedankenverloren, da sie sich das Gleiche fragte, entgegnete aber heiser: „Das ist jetzt unwichtig. Alles, was zählt, ist, dass der Major unbedingt Wärme braucht und seine Wunde versorgt werden muss.“
„Im Wagen ist es wärmer, Mylady. Und vielleicht schaffen Sie es ja sogar, ihn während der Fahrt provisorisch zu verbinden, bis wir in der Mühle sind. Die Wunde scheint zwar nicht allzu stark zu bluten, aber besser ist´s trotzdem.“
„In der Mühle?“, keuchte Elaine. „Der Major ist verwundet und braucht einen Arzt!“
„Ich weiß, Lady Elaine“, gab Henderson zerknirscht zurück, während er den Verletzten an den Schultern packte und Jack die Füße nahm, sodass sie ihn tragen konnten. „Verletzt und halb erfroren. Aber selbst wenn das den Tod des Majors bedeuten sollte, wir kommen bei diesem Wetter nicht weiter als bis zur Mühle. Offen gesagt, selbst dafür benötigen wir schon ein Quäntchen Glück. Ich fürchte, uns bleibt nichts anderes übrig, als uns vorerst selbst um den Major zu kümmern.“
Elaine wimmerte erstickt. Doch gerade als sie zustimmend nicken wollte, schoss ihr ein neuer beängstigender Gedanke in den Kopf: „Und wenn diejenigen, die den Major umbringen wollten, ebenfalls in der Mühle vor dem Schneesturm Unterschlupf gesucht haben?“
„Die werden sehen wollen, dass sie so schnell wie möglich aus der Gegend verschwinden“, widersprach Henderson keuchend. „Und zu Pferd ist das leichter als mit dem Wagen.“
„Also gut“, stimmte Elaine widerstrebend zu und folgte Henderson und Jack, die mit ihrer Last bepackt zum Wagen stapften.
Sie schüttelte sich die Schneeflocken von den dunklen Locken und stieg zuerst ein, sodass die beiden Männer den Kopf des Verwundeten in ihren Schoß betten konnten. Seinen restlichen Körper legten sie quer zur Fahrtrichtung auf die Bank, aber da der Major ungewöhnlich groß war, baumelten seine Füße seitlich herab und guckten unter den Decken heraus, mit denen Jack seinen Körper bedeckte.
Während Henderson den Verschlag zuschlug und Sekunden später die Pferde antrieb, fragte Elaine sich verzweifelt, wie sie es schaffen sollte, bei der holprigen Fahrt den Major zu verbinden. Aber da sie wusste, dass Panik nicht half, atmete sie ein paarmal tief durch und beugte sich dann vorsichtig vor, um ihre Röcke zu heben. Entschlossen riss sie einen ihrer Unterröcke in Streifen. Kurz überlegte sie, ob es wirklich sinnvoll war, den Oberkörper des Majors zu entkleiden. Major Whitthurst war ohnehin schon kurz vorm Erfrieren, und wenn sie ihn jetzt auch noch auszog? Andererseits musste sie irgendwie die Wunde verbinden, wenn sie verhindern wollte, dass er verblutete.
Es war nicht ganz einfach, aber letztendlich gelang es ihr, den linken Arm des Majors so aus dem Uniformrock und dann aus dem Hemd zu ziehen, dass die rechte Körperhälfte bekleidet blieb. Mit zittrigen Fingern schob sie den Stoff etwas zur Seite und erblickte die Wunde auf der linken Schulter, die nach einer Schussverletzung aussah. Aber wenn sie es richtig beurteilte, schien die Kugel die Schulter nur oberhalb des Arms gestreift zu haben und war nicht steckengeblieben. Vielleicht war der Major also weniger schlimm verletzt, als sie zunächst befürchtet hatte. Andererseits musste er, entgegen Hendersons gegenteiliger Vermutung, viel Blut verloren haben, wenn sie den Zustand seiner Kleidung betrachtete, von seiner Unterkühlung einmal ganz abgesehen. Es war daher noch viel zu früh, erleichtert aufzuatmen.
Zumindest gelang es ihr, seine Schulter halbwegs sachgerecht zu verbinden, sodass die Blutung vorerst gestoppt war. Obwohl es sie zutiefst beunruhigte, dass Whitthurst während der gesamten Prozedur nicht das geringste Lebenszeichen von sich gab. Weder ein Zucken noch Stöhnen deuteten darauf hin, dass er irgendetwas von dem mitbekam, was mit ihm geschah. Sie fragte sich besorgt, ob seine Unterkühlung oder der Blutverlust für diese tiefe Bewusstlosigkeit verantwortlich war. Oder womöglich die Schwellung an seiner linken Schläfe, die sie gerade entdeckte, als sie Whitthurst sanft die nassen Haare aus der Stirn strich.
„Wagen Sie es ja nicht zu sterben, Major“, flüsterte Elaine mit einem Kloß im Hals.
Sie achtete nicht mehr auf den Schneesturm, der draußen weiterhin mit aller Macht tobte, sodass der Wagen nur im Schneckentempo vorankam. Ihre ganze Sorge galt dem leblosen Mann, der so still und blass auf ihrem Schoß lag. Elaine erinnerte sich voller Wehmut an ihre erste Begegnung mit dem für seinen Rang erstaunlich jungen Major. Ihr Bruder Anthony stand zu diesem Zeitpunkt noch immer unter Mordanklage, hatte sich aber, nachdem sich eine neue Beweislage ergeben hatte, zusammen mit Robert Ashton von Schottland aus auf den Weg nach London gemacht, um sich in Whitehall zu stellen. Unterwegs war er dem Major und seinen Soldaten begegnet, die Auftrag hatten, ihn zu finden und nach Whitehall zu bringen. Whitthurst hatte Anthonys Ehrenwort akzeptiert, dass er sich stellen wollte, ihn nach London eskortiert und im Hause Robert Ashtons bis zur Anhörung in Whitehall unter Hausarrest gestellt. Dort hatten inzwischen Elaine und Victoria zusammen mit Lady Albinia verzweifelt auf die Ankunft Anthonys und Roberts gewartet. Elaine war unendlich erleichtert gewesen, ihren Bruder zu sehen, als dieser von dem stattlichen Major in den Salon von Westshire House geführt wurde. Natürlich hatte Elaines ganze Wiedersehensfreude und Aufmerksamkeit ihrem Bruder gegolten. Und doch hatte sie am Rande auch ein Auge auf den jungen Offizier geworfen, der ihren Bruder gebracht hatte und mit seiner überdurchschnittlichen Größe, seinen hellgrauen Augen in einem schmalen Gesicht und dunkelbraunen Haaren eine attraktive und auffällige Erscheinung war. Am nächsten Morgen hatte sie ihn dann kurz wiedergesehen, als sie, nur mit einem Nachthemd und Mantel bekleidet, aus dem Fenster gestiegen und im Morgengrauen nach Whitehall gelaufen war, um Hilfe zu holen, nachdem Kopfgeldjäger in Westshire House erschienen waren. Die Männer hätten ihren Bruder umgebracht, wenn Whitthurst nicht mit ein paar Männern wie der Teufel losgestürmt wäre. Nur seinem Eingreifen verdankte Anthony es letztendlich, dass er unbeschadet in Whitehall angekommen war, wo er, Gott sei Dank, endgültig freigesprochen worden war. Die bis heute letzte Begegnung mit dem Major hatte dann auf Warrington Manor stattgefunden, dem Familiensitz der Lockwoods. Elaine war von Sir Frederic und seinen Kumpanen dorthin entführt worden. Nachdem Anthony und Robert Ashton sie bereits aus den Fängen ihrer Entführer befreit und die Verbrecher im Kampf besiegt und festgesetzt hatten, waren Whitthurst und seine Leute aufgetaucht und hatten die Entführer verhaftet. Am nächsten Morgen war Whitthurst mit den Gefangenen im Schlepptau dann zurück nach London geritten. Elaine hatte vom Frühstückszimmer aus beobachtet, wie Anthony Whitthurst verabschiedet hatte. Anschließend war ihr Bruder zu ihr ins Frühstückszimmer gekommen, und sie hatte eine Bemerkung darüber gemacht, wie effektiv der Major alle Dinge zu regeln schien. Woraufhin Anthony gelacht und erklärt hatte, Whitthurst wäre ein erstklassiger Offizier und von seinen Männern hoch geschätzt, was immer ein gutes Zeichen wäre. Zu ihrem Leidwesen hatte er jedoch im gleichen Atemzug erwähnt, dass Whitthurst nach Kanada abkommandiert war, wo er noch vor Weihnachten seinen Dienst antreten sollte. Daraufhin hatte Elaine sich enttäuscht jeden weiteren Gedanken an den attraktiven Major verboten. Gelungen war es ihr trotzdem nicht, ihn gänzlich aus ihren Gedanken zu verbannen. Und doch hätte sie in diesem Augenblick alles dafür gegeben, dass der Major heil und gesund in Kanada wäre, statt hier in ihren Armen zu sterben. Was mochte ihn nur auf einen Feldweg an Englands Südküste verschlagen haben, wenn er eigentlich auf der anderen Seite des Ozeans sein sollte?
Elaine presste die Lippen zusammen und horchte ängstlich auf den schwachen Atem des Majors. Noch war er am Leben. Aber wie lange noch? Starb jemand sofort an Unterkühlung oder womöglich auch noch etwas später? Sie kannte die Antwort, denn ihre eigene Mutter war mehrere Wochen nach einer Unterkühlung an einer Lungenentzündung gestorben! Voller Sorge zupfte sie die Decken, die den Major einhüllten, etwas höher unter sein Kinn und umfing seinen Körper, so fest sie konnte, mit ihren Armen, um ihm etwas von ihrer eigenen Wärme abzugeben. Bildete sie sich das ein, oder waren seine Lippen etwas weniger blau als zu Beginn ihrer Fahrt? Sie betete, dass es so war, denn es würde bedeuten, dass etwas Wärme in seinen Körper zurückkehrte. Gleichzeitig fiel ihr auf, wie jung und verletzlich der Major, den sie als energiegeladenen, resoluten Offizier kennengelernt hatte, in seiner Bewusstlosigkeit wirkte. Sie wagte es – da er es sowieso nicht spüren würde -, sanft seine hagere Wange zu streicheln. Was würde sie nicht dafür geben, wenn der Major jetzt aufwachen und sie mit seinem speziellen Lächeln ansehen würde, das sie so faszinierte. Wenn es aufblitzte, leuchtete eine blaue Flamme in seinen eisgrauen Augen, und seine Lippen, im Dienst zu einer strengen Linie zusammengepresst, wirkten plötzlich sensibel und weich.
Elaine seufzte leise, wohl wissend wie töricht ihre Gedanken waren. Der Major lag vermutlich im Sterben – und sie sann über sein Lächeln nach! Viel vernünftiger wäre es, zu überlegen, wie sie ihn noch besser wärmen konnte! Doch gerade, als sie auf die Idee kam, ihm mit den Händen sanft den Brustkorb zu massieren, spürte sie, wie ein leichtes Zittern durch Whitthursts Körper fuhr.
Elaine atmete scharf ein und spähte angespannt in Whitthursts bleiche Miene. Und tatsächlich: Sie hatte sich das Zittern nicht eingebildet. Sogar die Zähne des Majors fingen an zu klappern!
„Oh, Gott sei Dank!“, flüsterte Elaine. Denn auch wenn sie keine Ahnung von Medizin hatte, so wusste sie doch, dass das Zittern bedeutete, dass Whitthursts Körper anfing, sich gegen das Erfrieren zu wehren. Vielleicht, überlegte sie, von neuer Hoffnung erfüllt, waren sie gerade noch zur rechten Zeit gekommen, um den Major vorm Sterben zu bewahren. Denn anders als ihre Mutter damals war der Major jung und kräftig und kämpfte wahrscheinlich hartnäckig um sein Leben! Jetzt hieß es nur noch, seinem Körper so viel Wärme zu geben, wie irgend möglich, um ihn bei seinem Kampf gegen die Kälte zu unterstützen. Entschlossen schlang Elaine ihre Arme um Major Whitthursts Körper und presste ihn an sich.
„Kalt … so kalt.“
Die Worte waren kaum mehr als ein schwaches Wispern, aber Elaine, die ängstlich auf jede Veränderung im Zustand des Majors achtete, seit Henderson und Jack ihn in den Innenraum der alten Mühle getragen hatten, hörte sie sofort. Nur etwas mehr als zwei Stunden war das her, aber der Schneesturm hatte deutlich nachgelassen, sodass Henderson es wagen wollte, die Fahrt nach Warrington Manor fortzusetzen, damit der Major ins Warme kam. Die beiden Bediensteten waren gerade dabei, die Pferde, die sie nach der Ankunft bei der Mühle ausgespannt und in einer halb verfallenen Scheune untergebracht hatten, wieder vor die Kutsche zu spannen. Elaine saß derweil auf dicken Fellen auf dem Boden des einstigen Mühlraums, der leergeräumt war bis auf das alte Mühlwerk, das halb zerfallen in der Mitte stand. Die Wände und das teilweise eingefallene Dach boten Schutz vor dem eisigen Wind, und gegen die Kälte hatte Henderson aus altem Reisig und ein paar Ästen ein wärmendes Feuer entfacht. Der Major lag, mit den Decken aus der Kutsche zugedeckt, lang ausgestreckt in ihren Armen, den Kopf auf ihrem Schoß, und hatte bis zu diesem Augenblick kein Lebenszeichen von sich gegeben, wenn man von dem heftigen Zittern seiner Muskeln und Glieder einmal absah. Umso aufmerksamer spähte sie jetzt in seine bleiche Miene. Whitthursts Lider waren zwar nach wie vor geschlossen, doch Elaine wusste genau, dass sie sich die Worte nicht eingebildet hatte.
„Ich kann mir vorstellen, wie kalt Ihnen sein muss“, entgegnete sie daher mit einem Kloß im Hals. „Aber es wird bald besser. Ganz bestimmt.“
Beim Klang der sanften, mitleidigen Stimme regte sich in ihm ein Anflug von Neugier. Doch der Versuch, seine bleischweren Lider zu heben und zu sehen, zu wem die Stimme gehörte und wo er eigentlich war, ließ seinen Kopf regelrecht explodieren. Er stöhnte schwach und hob eine zittrige Hand zu seinem Kopf. Es war erschreckend, wie schwer ihm die Bewegung fiel. Er gab den Versuch auf, seine Augen zu öffnen, und flüsterte: „Wo …?“
Eine herrlich warme Hand strich ihm sanft über die Stirn. „Wir sind in einer stillgelegten Mühle. Henderson, mein Kutscher, hat uns hergebracht, weil wir Unterschlupf vor dem Schneesturm suchen mussten. Aber jetzt klart es auf. Henderson ist schon dabei, die Pferde einzuspannen. Sobald er fertig ist, geht es ab nach Hause, wo wir Sie in ein warmes Bett packen.“
Schneesturm? War ihm deshalb so kalt, dass ein Schauer nach dem anderen durch seinen Körper jagte? Aber wie konnte er so durchgefroren sein, wenn er sich im Inneren einer Mühle befand? Was die Frage aufwarf, wieso er sich überhaupt allein mit einer Lady dort aufhielt. Und weshalb war er so schwach wie ein Neugeborenes und fühlte sich so erbärmlich? Gott, sein Kopf schmerzte so sehr, dass ihm bald zum Erbrechen übel war und er kaum klar denken konnte! Was, zum Teufel, war nur los mit ihm? Ein Anflug von Panik wallte in ihm auf, als er keine Antwort auf seine Fragen fand, und er schüttelte benommen den Kopf. Zur Strafe für diese unbedachte Bewegung blitzten grellrote, brennende Lichter unter seinen geschlossenen Lidern, und Schmerzen, so höllisch, dass ihm ein Stöhnen entfuhr, schossen ihm durch den Schädel.
„Versuchen Sie stillzuliegen, Major“, befahl die sanfte Stimme. „Sie tun sich nur weh.“
Irritiert runzelte er die Stirn. Er war Major? Seltsam, dass er sich nicht daran erinnerte. Irgendetwas schien ganz gewaltig nicht mit ihm zu stimmen, wenn er nicht einmal wusste, welchen militärischen Rang er hatte! Erneut überfiel ihn eine diffuse Angst, und sein Atem ging schneller.
„Sie zittern wie Espenlaub, Sie Armer“, ließ sich die Lady, auf deren Schoß sein Kopf offenbar lag, bekümmert vernehmen. „Aber Zittern ist gut! Es bedeutet, dass Ihnen wärmer wird.“
Wärmer? Die Lady mochte eine beruhigend sanfte Stimme haben, aber sie hatte offenbar nicht die geringste Ahnung, wie sehr er gerade fror! Empört öffnete er einen Spaltbreit die Augen – und blinzelte in ein liebreizendes Gesicht mit strahlend blauen Augen, sanft geröteten Lippen und herrlichen dunklen, fast schwarzen Locken, die ein perfekt geschnittenes Gesicht umrahmten.
Ein strahlendes Lächeln machte sich auf den Zügen des hinreißenden Geschöpfes breit, während er sprachlos zu ihr hoch spähte. Und zu seiner zusätzlichen Verblüffung stiegen ihr Tränen in die Augen, als sie eigensinnig beharrte: „Es geht Ihnen wirklich besser! Oh, Gott sei Dank!“
„Sie haben … einen seltsamen … Sinn für Humor“, stellte er mit schwacher Stimme fest. „Zittern ist gut – also wirklich!“
Unendlich glücklich, dass Major Whitthurst trotz seiner Schwäche bei klarem Verstand war und sogar einen Anflug von Humor zeigte, lachte Elaine: „Ich verstehe, dass Sie das anders sehen, Major. Aber wenn Sie zittern, bedeutet das, dass Ihr Körper gegen die Kälte ankämpft. Was Ihre Überlebenschancen deutlich erhöht.“
Er starrte sie an. Überlebenschancen? Stand es so schlimm um ihn? „Können Sie mir … sagen, was … passiert ist?“
„Sie erinnern sich nicht?“, fragte Elaine überrascht.
Er wollte den Kopf schütteln und besann sich gerade noch rechtzeitig anders. „Nein.“
„Oh! Wie bedauerlich!“ Elaine sah ihn betreten an. „Dann werden wir wohl nicht so schnell herausfinden, wer Sie überfallen hat.“
„Überfallen!“, keuchte er matt. „Wir sind … überfallen … worden?“
„Nicht wir. Nur Sie. Aber machen Sie sich keine Gedanken, Major. Irgendwann werden Sie sich bestimmt erinnern, und dann finden wir die Verbrecher.“
Er konnte nicht anders, als über die Selbstverständlichkeit, mit der diese junge Lady ohne zu schaudern von Überfällen und Verbrechern sprach, zu staunen. Nichtsdestotrotz machte es ihm Angst, dass er sich an nichts erinnern konnte! Nicht einmal der Name dieser jungen Lady fiel ihm ein! Obwohl er überzeugt war, dass er sie kennen musste. Denn woher wusste sie sonst, dass er ein Major war? Und wieso war sie mit ihm zusammen in dieser alten Mühle? Er konnte sich weder erinnern, wie er hierherkam, noch wer diese wunderhübsche junge Lady war. Höchst unwürdig für einen Major der britischen Armee!
„Verzeihen Sie mir … die Frage“, murmelte er daher ratlos, „aber … könnten Sie mir vielleicht verraten, wer Sie sind?“
Er konnte an dem Staunen, das über ihre schönen Züge glitt, erkennen, wie sehr sie die Frage überraschte. „Elaine Lockwood. Sie erinnern sich nicht an mich?“
„Es tut mir aufrichtig … leid, Miss Lockwood, aber …“
Er verstummte hilflos, sodass Elaine ihn nachdenklich musterte. Sie war Lady Elaine und nicht Miss Lockwood, und das sollte der Major eigentlich wissen. Aber sie konnte an seinem verstörten Gesichtsausdruck sehr genau erkennen, dass ihm sein Unvermögen, sich an sie zu erinnern, großes Unbehagen verursachte, sodass sie ihn mit einem Lächeln zu beruhigen versuchte. „Wir kennen uns nur sehr flüchtig, Major. Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen. Aber an meinen Bruder Anthony werden Sie sich vermutlich erinnern. Denn immerhin haben Sie ihm das Leben gerettet.“
„Habe ich?“
„Oh. Das wissen Sie auch nicht?“
Er dachte angestrengt nach. Zum Teufel auch, er erinnerte sich an überhaupt nichts! Da wo eigentlich Erinnerungen sein sollten, war in seinem Gehirn nichts als gähnende Leere! Obwohl er immer noch so sehr fror, dass es wehtat, brach ihm kalter Schweiß auf der Stirn aus, und er keuchte: „Ich wünschte wirklich, ich … könnte etwas anderes behaupten, aber …“
Elaine schluckte und blinzelte voller Mitgefühl in die ausdrucksvollen grauen Augen des Majors, die jetzt voller Schmerz und Verwirrung waren. „Es wird Ihnen schon wieder einfallen, Major. Bestimmt liegt es an der Kopfverletzung. Sie haben eine ziemlich dicke Beule an Ihrer Schläfe, wissen Sie.“
„Nein, ich weiß nicht“, entgegnete er, aber diesmal zuckte ein schwaches Grinsen um seine blaugefrorenen Lippen, während er vorsichtig seine Schläfe betastete.
Elaine lächelte unterdrückt. Whitthurst mochte krank und schwach sein, aber er bewies einen unbezwingbaren Sinn für Humor! Doch schon kam ihr der nächste beunruhigende Gedanke: „Major, ich frage es ja nur höchst ungern, aber – an Ihren Namen können Sie sich schon erinnern, oder?“
Für einen Augenblick war ein kurzes Blinzeln die einzige Reaktion, die er zeigte. Elaine wagte schon zu hoffen, er würde ihre Besorgnis mit einem weiteren Scherz zerstreuen. Stattdessen registrierte sie plötzlich, dass sich sein Brustkorb immer schneller hob und senkte und er die Lippen zusammenpresste. Mit zittrigen Fingern fuhr er sich durch die zerzausten braunen Haare, schluckte mehrmals und brachte kein Wort über die Lippen. Es war offensichtlich, dass Whitthursts Nerven blank lagen und er um Selbstbeherrschung rang. Und als er dann schließlich doch sprach, hatte Elaine den Eindruck, er wäre sogar noch blasser als zuvor. „Ich … habe nicht die geringste Ahnung … wer ich bin, wie es scheint. Aber Sie … wissen es … hoffe ich?“
„Ihr Name ist Sir Garreth Whitthurst“, versuchte Elaine seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, wobei sie sich so sachlich wie möglich gab, um sowohl ihn als auch sich selbst zu beruhigen.
Der Name sagte ihm nichts. Vergeblich wühlte er in seinem Gehirn nach irgendeiner Bedeutung, die sich damit verband, doch als Ergebnis verschlimmerte sich nur das Dröhnen in seinem Kopf. Sein einziger Trost war, dass es sich immerhin richtig anfühlte, wenn sie behauptete, er wäre beim Militär. Er konnte sich zwar nicht konkret erinnern – aber dass er Offizier war, erschien ihm einleuchtend. Alles andere allerdings – nichts als Fragezeichen in seinem Gehirn!
„Sie sagten, ich wäre … Major“, vergewisserte er sich stirnrunzelnd, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte.
„Ja, bei der englischen Armee“, bestätigte Elaine, erleichtert, dass es Whitthurst offenbar halbwegs gelang, seinen Anfall von Panik unter Kontrolle zu bekommen und vernünftige Fragen zu stellen. Vielleicht half es ihm, wenn er etwas mehr über sich erfuhr, sodass sie hinzusetzte: „Ich nehme an, dass Sie im Krieg gegen Napoleon gekämpft haben, doch der Krieg ist zu Ende, Gott sei Dank. Als wir uns vor zwei Monaten kennengelernt haben, waren Sie in London stationiert, aber mein Bruder sagte, Sie wären nach Kanada abkommandiert.“
„Kanada? – Aber … wir sind nicht … in Kanada, oder?“
Elaine konnte seine hilflose Verwirrung nur zu gut verstehen und lächelte mitfühlend. „Nein, wir sind in der Nähe von Dover.“
„Also in Kent“, flüsterte er matt und seltsamerweise erleichtert.
„Immerhin haben Sie Ihre Ortskenntnisse nicht verloren“, versuchte Elaine ihn aufzumuntern.
Es war unglaublich, aber um seine Lippen zuckte es. „Nein, sieht … so aus. Besser … als nichts, oder?“
„Viel besser! Aber vor allem sind Sie am Leben, das ist das Wichtigste! Und damit Sie das auch noch etwas länger bleiben, sollten Sie jetzt besser schlafen. Sie sehen nämlich unglaublich mitgenommen und erschöpft aus.“
Er spähte unter halb gesenkten Lidern zu ihr hoch und murmelte träge: „Dafür dass … Sie sagten, wir … kennen uns nur … sehr flüchtig … wirken Sie aber … erstaunlich … besorgt um mich, Miss … Lockwood.“
„Ich wäre um jeden besorgt, der verwundet und halb erfroren ist“, wich Elaine errötend aus. „Und nennen Sie mich bitte Elaine. Miss Lockwood klingt viel zu förmlich.“
„Das stimmt“, flüsterte er mit dem Schatten eines frechen Grinsens. „Vor allem, wenn man … bedenkt, dass ich … sehr bequem … in Ihren Armen liege.“
Elaine strich ihm sanft über die Stirn, obwohl ihr bewusst war, wie unschicklich eine solche Berührung war. „Nur, weil Sie halb erfroren sind und es in meinen Armen wärmer haben, Major. Aber sobald wir zuhause sind, müssen Sie mit einem warmen Federbett vorliebnehmen.“
„Warm … ist gut“, flüsterte er, und erneut zuckten seine Lippen. „Aber Ihre Arme … und ein Bett … wären einfach … himmlisch.“
„Ich glaube, Sie werden nicht sterben, Major“, bemerkte Elaine lächelnd. „Nicht, wenn Sie schon wieder in der Lage sind, anzügliche Bemerkungen zu machen.“
„Ich denke ja … gar nicht daran“, murmelte er schwach, während ihm die Lider über die Augen fielen. „Ich freue mich … viel zu sehr … auf Ihr Federbett.“ Sekunden später schlief er.
Elaine hingegen seufzte leise. Der Major mochte sein Gedächtnis verloren haben – nicht aber seine Fähigkeit, ihren Herzschlag aus dem Takt zu bringen! Wenn sie in seine grauen Augen sah, die zwischen den dunklen Wimpern so erstaunlich hell leuchteten, hatte sie das Gefühl, sie würde darin versinken. Und wenn er lächelte – lieber Himmel, dann brachte sie kaum noch einen vernünftigen Gedanken zustande! Schon bei ihrer ersten Begegnung war es so gewesen! Und obwohl seitdem über zwei Monate vergangen waren und sie in der Zwischenzeit geglaubt hatte, sie würde ihn nicht wiedersehen, und sich einzureden versucht hatte, sie könnte ihn vergessen, hatte sich nichts daran geändert. Sie kannte Major Whitthurst kaum, wusste so gut wie nichts über ihn, außer dass er ein hervorragender Offizier war, und dennoch – irgendwie ahnte sie, dass er in ihrem weiteren Leben noch eine bedeutende Rolle spielen würde.